Schwarmforschung Was wir von Tieren lernen können

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Muslimische Pilger umkreisen Quelle: REUTERS

Im Laufe seiner Arbeiten war er zu dem Schluss gekommen, dass es manchmal sinnvoller sein konnte, Menschen so zu behandeln, als handele es sich um Gase, Flüssigkeiten oder Feststoffe. „Das hängt ganz von der Dichte der Menschenmenge ab“, erläutert er. „Nehmen wir an, Sie untersuchen Fans, die zu Fuß ein Fußballstadion betreten. Bei geringer Dichte bewegen sie sich frei, ohne miteinander in Berührung zu kommen. In diesem Moment sind sie mit dem Gaszustand vergleichbar.

Wenn die Dichte größer wird, stehen sich die Menschen gegenseitig im Weg und reagieren aufeinander. Das wäre der flüssige Zustand. Und bei noch größerer Dichte, vor allem wenn die Leute anfangen zu schieben, kann man ihr Verhalten mit dem granularer Materie vergleichen.“ Mit anderen Worten, Menschen, die eine Engstelle passieren wollen, können diese genauso verstopfen wie Sand eine Sanduhr: Keiner kommt mehr voran.

Stop-and-go-Wellen

Bevor er sich die Videos des Unfalls ansah, erwartete Helbing ein Muster dieser Art. Doch die Analyse ergab ein anderes Bild. Auf den Aufzeichnungen war die rechte Seite der Rampe zur Brücke zu sehen. Um 11.45 Uhr bewegte sich ein relativ geordneter Pilgerstrom zu den Säulen hinauf. Es war sogar ausreichend Platz, dass einige Pilger Schirme zum Schutz gegen die Sonne aufspannen konnten. Gegen 11.53 Uhr stockten die vordersten Pilger plötzlich, möglicherweise wegen eines Zelts zur medizinischen Notversorgung, das an einer Ecke aufgebaut worden war.

Die Unterbrechung dauerte nicht lange, schon nach einer Minute setzte sich der Strom wieder in Bewegung. Diese kurze Störung reichte jedoch aus, um eine Folge von Stop-and-go-Wellen auszulösen, die sich entgegen der Bewegungsrichtung durch die Menge fortsetzten.

Fatale Störung

Das Verhalten erinnerte Helbing an die Verkehrsstaus, die er untersucht hatte. Wenn ein Fahrer vor sich ein Bremslicht aufleuchten sieht, tritt er ebenfalls auf die Bremse. Damit veranlasst er die Fahrer hinter ihm, ebenfalls langsamer zu fahren. Die ursprüngliche Verzögerung war aber möglicherweise gar nicht durch ein Hindernis ausgelöst worden, sondern vielleicht durch Fahrer, die um eine Lücke im Verkehr konkurrierten.

Das Muster der Stop-and-go-Wellen auf der Rampe setzte sich 20 Minuten lang fort, während gleichzeitig die Dichte der Pilgermenge immer weiter zunahm. (Um die Dichte und andere Faktoren zu messen, analysierte Helbings Team die Videos Bild für Bild und ermittelte die Anzahl der Neuzugänge auf der Brücke, ihre Geschwindigkeit, ihre Flussrate und ihre regionale Dichte.)

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