Soziale Netzwerke Die Macht von Facebook wird überschätzt

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Das wohl spektakulärste Beispiel jüngster Zeit, in dem das Internet und die sozialen Netzwerke als neue Gegenmacht zur etablierten Ordnung gefeiert wurden, ist Wikileaks. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Internet-Plattform rund um die Veröffentlichung Tausender Geheimdokumente aus den Archiven des US-Außen- und Verteidigungsministeriums. Allen wütenden Reaktionen seitens des US-Establishments und dem Deaktivieren diverser Server zum Trotz konnte die globale Verbreitung des zum Teil brisanten Materials nicht verhindert werden. Ja, mehr noch, der australische Wikileaks-Gründer Julian Assange verteilte unter seinen Zehntausenden Anhängern eine verschlüsselte Version der Geheimdokumente mit allen 200 000 Originaldokumenten. Mit diesem Schritt gab er nicht nur das Wissen an den digitalen Schwarm weiter, sondern er generierte sich eine Art Lebensversicherung. Eine Zehntausendfache Absicherung, die ihn davor bewahren sollte, dass ihm etwas „zustoßen“ könnte. Ist das Beispiel von Wikileaks nicht der Beweis dafür, dass die sozialen Netzwerke imstande sind, die Mächte dieser Welt das Fürchten zu lehren?

Zusammenspiel von Ressourcen und Netzwerk

Tatsächlich ist der Fall Wikileaks ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel von Ressourcen und Netzwerk. Das Netzwerk ist hier kein strategisches Mittel zum Aufbau von Macht, sondern ein taktisches Mittel, um sich dem Zugriff durch die Machthaber zu entziehen. Damit kommt den sozialen Netzwerken eher die Rolle einer Guerillaarmee zu oder die Rolle der Dorfbewohner, die einzelne Guerillakämpfer in ihren Häusern verstecken.

Die Macht der sozialen Netzwerke, selbst wenn sie einmal im Besitz einer wertvollen Ressource sind, ist weniger die einer Gegenmacht mit einem eigenen Zentrum als vielmehr die Macht der „Kritik“. Sie kann der etablierten Macht Schläge versetzen und innere Widersprüche verstärken. Dies zeigte die Rolle von Facebook und Co. im Zuge von sozialen Aufständen in jüngster Geschichte, etwa bei den Protesten im Iran 2009 oder bei den Umstürzen in Tunesien und Ägypten 2011. Die Macht der sozialen Netzwerke kann die etablierte Macht der realen Welt aber nicht ersetzen. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten war es letztendlich das Militär, das die Entscheidung über die Zukunft des Staatsoberhauptes traf.

Das Web 2.0 taugt hingegen mehr zu Operationen einer Guerillaarmee als für Prozesse der Errichtung einer neuen Ordnung oder eines neuen Staates. Sie setzt den Staat und eine zentralisierte Form der Macht in gewisser Weise sogar voraus, denn die Macht der sozialen Netzwerke benötigt einen Reibebaum. Ohne bestehende Macht, die man kritisieren kann, ohne Firmen, deren Produkte bewertet werden können, ohne Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die man an den Pranger stellen kann, würde der digitale Schwarm seinen gemeinsamen Fokus und die Orientierung – seinen kleinsten gemeinsamen Nenner – verlieren.

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