Stille Nacht, heilige Nacht Wo kommen eigentlich unsere Weihnachtslieder her?

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Der Reiz der Nostalgie

Die dörfliche Szenerie wirkt so suggestiv, weil sie aus der Wirklichkeit längst entschwunden ist. Kurzke spricht von der „schutzlosen Einfalt“ des Liedes, in dem das Geheimnis seiner Wirkung liege. Es hallt tief nach im Gemüt, macht wehrlos, berührt verschüttete Seelenschichten. Selbst Atheisten werden schwach, wenn in der Messe das Licht herabgedimmt wird und die Gemeinde in die ergreifenden Zeilen einstimmt.

Katholische Theologen sind nicht überzeugt

Trotzdem hat sich die Kirche, vor allem die katholische, schwergetan mit dem Lied. Es ist spät in die Gesangbücher aufgenommen worden, ein Zugeständnis an den Mehrheitsgeschmack. Theologen vermissen die „Härte“ der Weihnachtsgeschichte, gebildete Liebhaber erheben den Kitsch-Verdacht, sie bevorzugen das melancholische Genre, schwermütig schreitende Lieder wie „Maria durch ein Dornwald ging“. Im Ranking der besten Weihnachtslieder rangiert es weit oben, schon wegen seiner Patina. Dabei handelt es sich bei dieser Minilegende von der schwangeren Maria, die Dornen zum Blühen bringt, um ein Produkt der Spätromantik: Es ist ein Kunstlied, das als alt empfunden wird, weil es wunderbar auf alt getrimmt ist. Gerade die schönsten Lieder, etwa „Es kommt ein Schiff, geladen“ mit seinen altertümlichen nautischen Metaphern, leben vom Reiz der Nostalgie, vom Kontrast zur Moderne: Sie drücken eine vage Sehnsucht aus, eine Art Heimweh nach einer Vergangenheit, deren Verlust in säkularen Zeiten eine Lücke hinterlassen hat.

Wie sich die Kirchen in Europa finanzieren

Wenn wir Weihnachtslieder singen, betreten wir eine Sprachwelt, die von weither zu kommen scheint und gerade deshalb so attraktiv wirkt. Weihnachtslieder stellen uns, wie Hermann Kurzke sagt, ein „Vokabular zur Verfügung“, das uns sonst nie über die Lippen käme. Erst in der Ausnahmesituation der Christmette legen wir alle Scheu ab und singen die zweite Strophe von Friedrich Spees „Zu Bethlehem geboren“: „In seine Lieb versenken/ Will ich mich ganz hinab/ Mein Herz will ich ihm schenken/ Und alles, was ich hab.“ Das geht nur im Kollektiv. Gemeinsames Singen befreit. Auch wenn man oft gar nicht versteht, was man da singt: Man stimmt mit ein, über Kühnheiten oder Sinnwidrigkeiten des Textes hinweg. Auch dann, wenn man gar nicht singen kann.

Weihnachtsrituale haben ihre eigene Macht

In der modernen Kleinfamilie freilich kann die Stimmung ohne einen geübten Sänger leicht kippen. Zumal wenn pubertierende Kinder dabei sind, die partout nicht mitsingen wollen. Es müssen Schamschwellen überwunden werden, bevor ein 15-Jähriger singt: „Fröhlich soll mein Herze springen.“ Dass er am Ende trotzdem irgendwie mitmacht, zeigt, wie machtvoll die Weihnachtsrituale noch immer unser Leben formen.

Der Frankfurter Soziologe Tilman Allert spricht von einer „magischen Zeit“, die „auf einzigartige Weise Ritualzumutung und Ritualgenuss kombiniert“: Man flieht vor Gans, Geschenken und Weihnachtsbaum, „kein einziges Lied auf den Lippen“ – oder man singt sich „in die Tradition hinein“.

Eine Stimmung des Entgegenkommens, der Großzügigkeit gehe vom Weihnachtsfest aus, schon deshalb störe kein falscher Ton bei „O du Fröhliche“: Jede Unbeholfenheit wird im Zeichen des Christkinds verziehen.

An Weihnachten, so Allert, sehnen wir uns nach der „Gabe der Naivität“, zeigen uns von unserer mitfühlenden, verletzlichen Seite, werden Kinder: „O Jesulein zart, dein Kripplein ist hart.“

Die Krippe ist der Ort der legitimen Rührung, jenseits aller Rationalisierungen: Sie haben das Singen nicht aus der Welt schaffen können. Das merken wir an Weihnachten wie zu keiner anderen Zeit im Jahr. „Der Aufklärer schämt sich der Rührseligkeit“, sagt Hermann Kurzke, „aber vielleicht ist die Sentimentalität sein Bestes.“

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