Stille Nacht, heilige Nacht Wo kommen eigentlich unsere Weihnachtslieder her?

Weihnachtslieder sind in christlichen Ländern weit verbreitet. Im deutschen Sprachraum gehen die ältesten bis ins Mittelalter zurück. Und die alten deutschen Kirchenlieder waren einst Exportschlager.

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Früher war mehr Lametta
Christbaumschmuck und Weihnachtsgeschenk an einem Weihnachtsbaum Quelle: dpa
Jemand packt ein kleines Geschenk ein Quelle: dpa
Jemand steckt Geld in eine Spendendose Quelle: dpa
Buchhandlung Quelle: dpa
Ein Mann hört CDs Quelle: dpa
Schmuck Quelle: dpa
Adventskranz Quelle: dpa

Als der deutsche Filmemacher Günther Klein vor 20 Jahren zum Weihnachtssingen in seinen Wiesbadener Salon lud, war das eine kleine Provokation an die Adresse der kreativen Klasse: Singen? Ging gar nicht. Etlichen der Designer und Werbeleute, die da am späten Nachmittag zusammenkamen, war seit Jahren kein Lied mehr über die Lippen gekommen. Erst recht nicht unterm Weihnachtsbaum, der festlich geschmückt im Erker stand, mit alten Kugeln und Glasperlen behängt.

Doch dann geschah das kleine Weihnachtswunder: Bei den ersten Gitarrenklängen stimmten fast alle ein in die Zauberformel „Alle Jahre wieder“. Erst zaghaft brummelnd, weil es ein bisschen peinlich war, sich plötzlich singen zu hören, dann mit fester Stimme, schließlich schmetternd beim Klassiker „O du fröhliche“. Es war fast eine „Art Erleichterung zu spüren“, sagt Klein, „als ob man ein persönliches Geschichtskapitel überwunden hätte“.

Sentimentalität muss nicht peinlich sein

Seither hat er immer wieder geladen, an die rot eingedeckte, mit Plätzchen, Pralinen und Textblättern übersäte Weihnachtsliedertafel, um das aus Kindheitstagen Vertraute zu zelebrieren, das Weihnachtsliedersingen, um „eine Gemeinschaft auf Zeit“ zu bilden, um „nicht mehr vor der eigenen Sentimentalität erröten zu müssen“. Ganz im Sinne des „größten deutschen Liedermachers“, im Sinne Martin Luthers, den man den heimlichen Schutzpatron der Wiesbadener Liedertafel nennen könnte.

Die berühmtesten deutschen Weihnachtslieder

Man muss nur auf die andere Rheinseite fahren, zur Johannes-Gutenberg-Universität, um sich darauf das wissenschaftliche Siegel geben zu lassen. Im Mainzer Gesangbuch-Archiv, dem einzigen seiner Art weltweit, stehen knapp 5000 Gesangbücher im Regal, vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Die katholischen Bücher sind blau, die evangelischen rot markiert, Letztere dominieren deutlich. „Das Gesangbuch ist eine Erfindung des Protestantismus“, sagt Hermann Kurzke, emeritierter Germanistikprofessor und Gründer des Archivs. Luther habe die Gemeinden stärker am Gottesdienst beteiligen wollen, als es die traditionell lateinische Liturgie zuließ. Die Gläubigen sollten die christliche Botschaft in ihrer Sprache singend in die Welt hinaustragen.

Protestantisches Gedankengut in Liedform

Der Wittenberger Mönch hatte schon früh verstanden, dass das gesungene Wort leichter den Hörer erreicht als das gesprochene. Er arbeitete planmäßig am protestantischen Repertoire, mithilfe des Buchdrucks. So wurden die reformatorischen Lieder, wie Kurzke sagt, zum „Vehikel einer Art Volksbewegung“, zu „regelrechten Hits“, zu „Exportschlagern“, die sich mit der Reformation verbreiteten, über das Medium des Gesangbuchs – nach Skandinavien, nach England und in die USA. Ob in schwedischen oder amerikanischen Gesangbüchern – überall erkenne man die Vorlagen der „gewaltigen lutherischen Produktivität“. Mit der Reformation sei auch das deutsche Kirchenlied und damit das Weihnachtslied „mitgenommen“ worden – von „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ bis „Vom Himmel hoch, da komm‘ ich her“.

Konkurrenz der Konfession

Und das katholische Pendant? Dessen Verbreitungsgeschichte wirkt vergleichsweise provinziell: Die ältesten vorreformatorischen Weihnachtslieder in deutscher Sprache, so der Mainzer Liturgiewissenschaftler und Leiter des Gesangbuch-Archivs Ansgar Franz, sind „im Gottesdienst bezeugt“, sie docken an der lateinischen Liturgie an oder tauchen im Umfeld von Krippe-Spielen auf: „Da wird der Bogen gespannt von Weihnachten zur Passion und Auferstehung“, in Krippenliedern wie „Zu Bethlehem geboren“ oder in Adventsliedern wie „O Heiland, reiß die Himmel auf“, einem Lied der „eschatologischen Verheißung“, in dem das „Ende der Zeiten“ herbeigesungen wird, in dramatischen Versen des Jesuiten Friedrich Spee. Wohlgemerkt in deutscher Sprache.

Dennoch entstand in rein katholischen Ländern wie Italien oder Spanien kein volkssprachlicher weihnachtlicher Kirchengesang. Erst die „Reibung mit der reformatorischen Bewegung“, sagt Franz, der „konfessionelle Wettbewerb“ bringt die deutsche Kirchenliedproduktion in Schwung: Die Katholiken wollen den Protestanten zeigen, dass sie genauso schöne Weihnachtslieder schreiben können. Beispielsweise „Es ist ein Ros entsprungen“, ein Lied von genialer melodischer Einfachheit. Es hat bis heute seinen Zauber nicht verloren. Auch nicht seine Rätselhaftigkeit.

Was singen wir da eigentlich?

Was singen wir da eigentlich? Woher kommt das Lied? Die älteste Quelle stammt von 1588, sie verweist auf einen Trierer Kartäusermönch als Autor, der ursprünglich in der ersten Strophe eine Rätselfrage stellt, und zwar die nach dem Rosenzweig, der „aus einer Wurzel zart“ hervorgesprossen ist und ein „Blümlein“ gebracht hat, „wohl zu der halben Nacht“, also um Mitternacht. In der zweiten Strophe wird die Antwort gegeben: Der Zweig ist Maria, die „reine“, und das verheißene Blümlein ist das Kind, das sie „geboren hat“, ein Wunder, wie der Verfasser hinzufügt: „Und blieb doch reine Magd.“ So die alte, katholische Fassung des Lieds, das später seinen Weg nimmt, von den Klöstern des Kartäuserordens in die Rheinprovinzen, nach Köln, Mainz und Speyer – und in die evangelischen Gesangbücher, mit leicht antimarianischer Akzentverschiebung: Statt des Rösleins wird in der zweiten Strophe nur noch das Blümlein, also Christus besungen. So steht es heute noch im evangelischen Gesangbuch.

Gesungene Liebesbriefe an Jesus

Die protestantischen Liederschreiber antworten im 17. Jahrhundert ihrerseits auf die katholische Produktion mit Liedern, die den Weg nach innen weisen: Sie sprechen das religiöse Gemüt an. Der Barockpoet Paul Gerhardt lädt mit seinem Lied „Ich steh an deiner Krippen hier“ die Gläubigen ein, sich in empfindsamer Meditation in das Bild des Menschensohns zu versenken. Er schreibt ein Liebesgedicht, das von der unbefangen-zärtlichen Zwiesprache mit dem Jesuskind handelt.

„Vergönne mir o Jesulein/ dass ich dein Mündlein küsse/ Das Mündlein, das den süßen Wein/ Auch Milch und Honigflüsse/weit übertrifft in seiner Kraft/ Es ist voll Labsal, Stärk und Saft/ Der Mark und Bein erquicket.“ Ein unerhört intimes, erotisch aufgeladenes Weihnachtslied. Eine stille Ekstase. Eine Zumutung.

Das späte 18. Jahrhundert räumt damit auf, es überarbeitet die alten Lieder, pädagogisiert sie im Sinne eines vernünftigen Gottesdienstes – bis das 19. Jahrhundert sie wiederentdeckt. Kurzke spricht von einer „zweiten Welle“ der Kirchenlieder, die „viel katholisches Gut mitschwemmt“, aber getragen wird von der „evangelischen Rezeption“, von der weltweiten, den Handelswegen folgenden Verbreitung des Gesangbuchs, das im 19. Jahrhundert mit dem Biedermeier zum Hausbuch avanciert.

Rückkehr der barocken Lieder

Jetzt werden die alt-barocken Lieder wiederentdeckt. Luther erscheint auf populären Darstellungen als singender Familienvater, der die Seinen um den Weihnachtsbaum schart. Heilig Abend, ein familiär gerahmtes Biedermeier-Bild, mit Geschenken und Gesang. Dieses Muster wurde prägend – bis heute. Nirgendwo findet es einen stimmungsvolleren Ausdruck als in den geistlichen Volksliedern des 19. Jahrhunderts: „Süßer die Glocken nie klingen“, „Leise rieselt der Schnee“ – das sind im strengen Sinne nicht religiöse Lieder, sondern Lieder mit „religiösen Untertönen“. Sie versammeln atmosphärische Schlüsselreize des Weihnachtlichen.

Das gilt erst recht für „Stille Nacht“, den Weihnachts-Welt-Hit schlechthin, ein Gelegenheitslied, das um 1816 im Salzburger Land entstanden ist, gedichtet und komponiert von zwei Kunst-Amateuren: „Wie konnte es kommen“, schreibt Hermann Kurzke im Sammelband „Geistliches Wunderhorn“, „dass sich seit anderthalb Jahrhunderten Menschen von New York bis Tokio von dem ergreifen lassen, was in einer begnadeten Stunde ein salzburgischer Hilfspriester und ein Dorforganist schufen?“

Die römisch-katholische Weltkirche

Er nennt selbst die wichtigsten Zutaten: die Terzen-Seligkeit, den wiegenden Sechs-Achtel-Takt, die schlichte harmonische Folge von Tonika, Dominante und Subdominante. „Stille Nacht“ kommt im Volksliedton daher, ist aber keineswegs naive Dichtung. Der Text spielt mit den Signalen der Sentimentalität, er romantisiert die Stall-Szene, zeigt eine Idylle, in der die Zeit stillzustehen scheint: „Alles schläft, einsam wacht/ Nur das traute hochheilige Paar/ Holder Knabe im lockigten Haar.“ Die Welt bleibt draußen, wie ausgesperrt. Das Lied inszeniert eine Gegenutopie, deren Zauber sich niemand entziehen kann, erst recht nicht die Stadtbürger in Leipzig, wo die Karriere des „Tiroler Volkslieds“ ihren Anfang nimmt.

Der Reiz der Nostalgie

Die dörfliche Szenerie wirkt so suggestiv, weil sie aus der Wirklichkeit längst entschwunden ist. Kurzke spricht von der „schutzlosen Einfalt“ des Liedes, in dem das Geheimnis seiner Wirkung liege. Es hallt tief nach im Gemüt, macht wehrlos, berührt verschüttete Seelenschichten. Selbst Atheisten werden schwach, wenn in der Messe das Licht herabgedimmt wird und die Gemeinde in die ergreifenden Zeilen einstimmt.

Katholische Theologen sind nicht überzeugt

Trotzdem hat sich die Kirche, vor allem die katholische, schwergetan mit dem Lied. Es ist spät in die Gesangbücher aufgenommen worden, ein Zugeständnis an den Mehrheitsgeschmack. Theologen vermissen die „Härte“ der Weihnachtsgeschichte, gebildete Liebhaber erheben den Kitsch-Verdacht, sie bevorzugen das melancholische Genre, schwermütig schreitende Lieder wie „Maria durch ein Dornwald ging“. Im Ranking der besten Weihnachtslieder rangiert es weit oben, schon wegen seiner Patina. Dabei handelt es sich bei dieser Minilegende von der schwangeren Maria, die Dornen zum Blühen bringt, um ein Produkt der Spätromantik: Es ist ein Kunstlied, das als alt empfunden wird, weil es wunderbar auf alt getrimmt ist. Gerade die schönsten Lieder, etwa „Es kommt ein Schiff, geladen“ mit seinen altertümlichen nautischen Metaphern, leben vom Reiz der Nostalgie, vom Kontrast zur Moderne: Sie drücken eine vage Sehnsucht aus, eine Art Heimweh nach einer Vergangenheit, deren Verlust in säkularen Zeiten eine Lücke hinterlassen hat.

Wie sich die Kirchen in Europa finanzieren

Wenn wir Weihnachtslieder singen, betreten wir eine Sprachwelt, die von weither zu kommen scheint und gerade deshalb so attraktiv wirkt. Weihnachtslieder stellen uns, wie Hermann Kurzke sagt, ein „Vokabular zur Verfügung“, das uns sonst nie über die Lippen käme. Erst in der Ausnahmesituation der Christmette legen wir alle Scheu ab und singen die zweite Strophe von Friedrich Spees „Zu Bethlehem geboren“: „In seine Lieb versenken/ Will ich mich ganz hinab/ Mein Herz will ich ihm schenken/ Und alles, was ich hab.“ Das geht nur im Kollektiv. Gemeinsames Singen befreit. Auch wenn man oft gar nicht versteht, was man da singt: Man stimmt mit ein, über Kühnheiten oder Sinnwidrigkeiten des Textes hinweg. Auch dann, wenn man gar nicht singen kann.

Weihnachtsrituale haben ihre eigene Macht

In der modernen Kleinfamilie freilich kann die Stimmung ohne einen geübten Sänger leicht kippen. Zumal wenn pubertierende Kinder dabei sind, die partout nicht mitsingen wollen. Es müssen Schamschwellen überwunden werden, bevor ein 15-Jähriger singt: „Fröhlich soll mein Herze springen.“ Dass er am Ende trotzdem irgendwie mitmacht, zeigt, wie machtvoll die Weihnachtsrituale noch immer unser Leben formen.

Der Frankfurter Soziologe Tilman Allert spricht von einer „magischen Zeit“, die „auf einzigartige Weise Ritualzumutung und Ritualgenuss kombiniert“: Man flieht vor Gans, Geschenken und Weihnachtsbaum, „kein einziges Lied auf den Lippen“ – oder man singt sich „in die Tradition hinein“.

Eine Stimmung des Entgegenkommens, der Großzügigkeit gehe vom Weihnachtsfest aus, schon deshalb störe kein falscher Ton bei „O du Fröhliche“: Jede Unbeholfenheit wird im Zeichen des Christkinds verziehen.

An Weihnachten, so Allert, sehnen wir uns nach der „Gabe der Naivität“, zeigen uns von unserer mitfühlenden, verletzlichen Seite, werden Kinder: „O Jesulein zart, dein Kripplein ist hart.“

Die Krippe ist der Ort der legitimen Rührung, jenseits aller Rationalisierungen: Sie haben das Singen nicht aus der Welt schaffen können. Das merken wir an Weihnachten wie zu keiner anderen Zeit im Jahr. „Der Aufklärer schämt sich der Rührseligkeit“, sagt Hermann Kurzke, „aber vielleicht ist die Sentimentalität sein Bestes.“

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