Stress Arbeit darf kein Krankheitserreger sein

Gewerkschaften und Psychotherapeuten schlagen Stress-Alarm. Leider haben sie Recht. Das Seelenleid von Millionen arbeitenden Menschen ist ein Symptom der Hybris des endlosen Mehr.

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Schon wieder Stress. Mittlerweile kann man die Reporte, Studien und Appelle kaum noch auseinanderhalten, deren Tenor ohnehin stets derselbe ist: Die Psyche der Deutschen leidet bei der Arbeit. Jetzt ist es die „Bundespsychotherapeutenkammer“, die vor der Bundespressekonferenz  mitteilt, dass fast jede zweite Frührente durch psychische Schäden bedingt sei – und diese wiederum sehr häufig „psychische Belastungen der Arbeitswelt“ zur Ursache hätten.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund hatte in bester PR-Manier die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und schon im Vorfeld der Pressekonferenz lautstark eine „Anti-Stress-Politik“ gefordert, „damit Arbeit nicht länger krank macht", wie DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagt.

Mancher Personalverantwortliche oder Unternehmer wird das ganze Stress-Thema als Gewerkschaftsgedöns abtun. Natürlich betonen Gewerkschaften gerne die Leiden ihrer Mitglieder. Das dient nicht zuletzt der Mobilisierung der eigenen Klientel. Und man sollte das durchsichtige Eigeninteresse der Psychotherapeuten an solchen Klagen nicht  unterschätzen. „Bessere betriebliche Prävention und Früherkennung von psychischen Erkrankungen“ und „mehr Behandlungsplätze für psychisch Kranke“ bedeuten natürlich auch mehr Geld aus den Solidarsystemen für Psychiater und Psychologen.

Doch es ist kein Gedöns. Die Hartnäckigkeit, mit der die arbeitsbedingten psychologischen Krankheiten immer wieder auf der publizistischen Bildfläche erscheinen, ist nicht nur durch  das Eigeninteresse der Helferberufe zu erklären, sondern dadurch, dass ein großer Teil der arbeitenden Menschen sich unmittelbar betroffen fühlt. Artikel über Burnout werden meist sehr viel gelesen. Sicher nicht nur von denen, die schon auf der Therapeutencouch liegen.

Kluge Arbeitgeber nehmen das Thema ernst. Aber sehr viele, vielleicht die meisten noch nicht.  "70 Prozent der Unternehmen setzen die nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtende Gefährdungsbeurteilung im Hinblick auf psychische Belastungen nicht richtig um", behauptet Buntenbach.

Leider hat sie wohl Recht. Überall ist von der Wissensgesellschaft und vom kreativen Mitarbeiter die Rede, doch in der Praxis wird die Schöpferkraft allzu oft ausgebremst. In vielen Unternehmen werden Mitarbeiter, von denen man intellektuelle  Leistungen fordert, in Großraumbüros zusammengepfercht, obwohl inzwischen jeder Hobbypsychologe weiß, dass nichts die intellektuellen Fähigkeiten so schwächt, wie dauernde Störungen und das Fehlen eines Rückzugsraumes. Die Hirnleistung nimmt in Großraumbüros um bis zu 50 Prozent ab, der Stress erhöht sich um 13 Prozent, behauptet der französische Neurologe und Managementprofessor Patrick Georges. Die Erklärung kann jeder Großrauminsasse nachempfinden: Akustische und ­visuelle Reize prasseln permanent auf das Hirn ein, bis gewisse Teile mit Informationen übersättigt sind. Der Stirnlappen, der Sitz des rationalen Denkens, kann dadurch nicht mehr aktiviert werden. Die Konzentration sinkt, man wird träge und auf die Dauer gemütskrank.

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