Natürlich ist Stress auch ein Wohlstandsleiden. Arbeitnehmer früherer Generationen haben sehr viel länger gearbeitet und unter meist sehr viel unbequemeren Bedingungen. Natürlich, ein Arbeiter in der Frühzeit der Industrialisierung hätte vermutlich gar nicht verstanden, was das für eine „Krankheit“ sein soll. Sein Problem war die verstaubte Lunge oder die schiere körperliche Erschöpfung. Aber Stress ist eben auch keine Folge unmittelbarer körperlicher Belastung, sondern ein psychisches Leiden, dass nicht ohne die sozialen Begleitumstände zu begreifen. Die Menschen der Wiederaufbaujahre nach dem Krieg klagten nicht über Stress. Das Wort gab es noch gar nicht. Ein Grund dafür ist womöglich auch, dass sie stets eine überzeugende Antwort fanden auf die Frage, warum sie sich all die Mühen antaten. Die Arbeit hatte einen überzeugenden Sinn: „Wohlstand für Alle“.
Und heute? Wenn es nach dem Willen der Politiker, der Unternehmen, aber auch der Gewerkschaften geht, dann muss die Aussicht auf wachsenden Wohlstand weiter zur Motivation genügen. Man hat zu arbeiten, damit es der Firma gutgeht, sie wächst, der Arbeitsplatz gesichert ist. Man soll also immer mehr und effektiver arbeiten, um weiter arbeiten zu dürfen. Das ist eine unsäglich deprimierende Aussicht. Ein Zirkelschluss, der für viele zum Teufelskreis wird. Es ist der Nährboden, auf dem Stress und Burnout gedeihen, denn nur als sinnlos empfundene Arbeit macht krank. Von sinnvoller Arbeit kann man gar nicht genug kriegen.
Arbeitgeber, die keine unglücklichen, seelisch leidenden Angestellten wollen, müssen ihren Mitarbeitern angemessene Arbeitsbedingungen bieten. Und sie müssen sich, falls die Arbeit selbst keine befriedigenden Sinnanagebote macht, damit abfinden, dass ihre Angestellten sich künftig nicht mehr mit Leib und Seele dem Dienst verschreiben werden, sondern den Lebenssinn außerhalb der Erwerbsarbeit suchen.
Noch fühlen sich die Arbeitgeber am längeren Hebel - und die Arbeitnehmer fügen sich ins Hamsterrad. Lieber Burnout als kein Job. Aber die Kräftebalance ändert sich bereits. Der demografische Wandel wird jungen, am Arbeitsmarkt begehrten Menschen eine wachsende Macht verleihen, ihre Ansprüche auf ein stressfreies Arbeitsleben gegenüber Arbeitgebern durchzusetzen. Sinnstiftende Arbeit wird ein schlagendes Argument für Personalabteilungen werden.
Stress, Burnout, arbeitsbedingte Depressionen, diese Massenphänomene sind nicht nur eine Summe trauriger Einzelschicksale. Dass Arbeit vielen Menschen zum seelischen Krankheitserreger werden kann, ist kein Gedöns, sondern hochpolitisch. Gerade Politiker, die sich Wirtschaftskompetenz zurechnen, täten gut daran, das Thema auf die Agenda zu heben - und nicht den Gewerkschaften und Therapeuten zu überlassen. Denn es ist ein Indiz für einen Paradigmenwechsel: In den frühindustrialisierten Ländern geht mehr Wirtschaftswachstum längst nicht mehr unbedingt mit mehr Wohlstand, geschweige denn Glück einher, sondern auch mit Raubbau an den Ressourcen der menschlichen Psyche.
Das Seelenleid des Wohlstandsmenschen, der Stress, unter dem er leidet, ist der Preis für die Vermessenheit einer Gesellschaft, die meint, ohne ein endloses „Mehr!“ nicht auszukommen. „Hybris“ nannten die alten Griechen solch einen Frevel, der stets durch göttlichen Zorn gerächt wurde. Die stressgeplagten, sich selbst überfordernden Gesellschaften der frühindustrialisierten Länder fordern diese Rache derzeit allzu übermutig heraus. Ein Psychotherapeut, der uns kollektiv auf die Couch legte, könnte daher nur das raten, was schon vor 2500 Jahren über dem Orakel von Delphi in Stein gemeißelt stand: „medèn ágan“ – „Nichts im Übermaß!“