Arbeitslose müssen teilweise Monate warten, bis ihre Anträge bearbeitet werden, zeigt die Reportage. „Grundsätzlich wollen die meisten Arbeitsvermittler helfen“, sagt Misler. „Nach Jahren haben viele aber auch resigniert.“
Da hilft es nicht, dass die Mitarbeiter der Jobcenter teilweise selbst von der Arbeitslosigkeit bedroht sind. Einige berichten von befristeten Verträgen und „Hire and Fire“-Methoden. Eine Mitarbeiterin sagt, sie lerne die neuen Kollegen gar nicht mehr an, die seien ohnehin bald wieder weg.
Zehn Jahre Hartz IV: Arbeitslosigkeit damals und heute
Rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland - das sind 6,3 Prozent - sind heute arbeitslos (Stand: Oktober 2014). Vor zehn Jahren war noch jeder Zehnte (10,1 Prozent) ohne Job, 4,4 Millionen Menschen hatten keine Arbeit (Stand: Oktober 2004). Im darauffolgenden Jahr erreichte die Arbeitslosigkeit mit rund fünf Millionen Arbeitslosen ihren Spitzenwert seit der Wiedervereinigung. Im Wesentlichen hing diese Entwicklung mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen („Hartz-IV-Effekt“).
Den Zahlen nach zu urteilen haben Frauen heute wie damals kein größeres Risiko als Männer, arbeitslos zu werden. Der tatsächliche Anteil arbeitsloser Frauen dürfte dennoch höher liegen: Statistiker vermuten, dass insbesondere unter Frauen die stille Reserve höher liegt, weil viele keine Vermittlungschancen mehr sehen.
Im Jahresmittel 2004 betrug die Arbeitslosigkeit im Westen 8,5 Prozent, im Osten war sie mit über 18 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Der Abstand hat sich inzwischen merklich verringert, ist aber weiterhin groß: Im Westen liegt die Quote heute bei etwa sechs Prozent, im Osten bei etwa zehn Prozent. Während das Potenzial an Menschen, die einer Arbeit nachgehen können, in Gesamtdeutschland stieg, sank es im Osten leicht.
Der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren ist in den vergangenen zehn Jahren zwar zurückgegangen. 2005 waren in dieser Altersgruppe noch knapp 15 Prozent arbeitslos, heute hat sich die Zahl mehr als halbiert. Ein Grund zum Jubeln ist das aber nur bedingt: Schließlich sinkt aus demografischen Gründen seit Jahren die Zahl der jungen Erwachsenen insgesamt. Die Arbeitslosenquote der Unter-25-Jährigen liegt seit zehn Jahren konstant etwa drei Prozentpunkte über der Gesamtquote.
In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil der 55- bis 64-Jährigen an der Gesamtarbeitslosigkeit von 25 auf über 33 Prozent. In absoluten Zahlen waren aber weniger Ältere arbeitslos. Denn auch hier spielt die demografische Entwicklung eine Rolle. 2005 waren gut 15 Millionen Menschen zwischen 50 und 64 Jahre alt, 2015 werden es bereits über 18 Millionen sein. In dieser Gruppe hat sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2005 um knapp zehn Prozentpunkte erhöht, denn die Zahl der arbeitenden Älteren ist auf knapp 9 Millionen angestiegen.
Die bei der Bundesarbeitsagentur gemeldeten offenen Stellen sind in den vergangenen zehn Jahren mehr geworden - mit einem deutlichen Knick zur Finanzkrise 2009. Im Jahr 2005 waren 256.000 Stellen als offen gemeldet, 2013 waren es 434.000. Seit 2012 ist die Zahl der offenen Stellen wieder rückläufig.
Die Folge: Frust und Wut bei den Angestellten. Man könne das Ganze nur mit Sarkasmus durchstehen, sagt eine Mitarbeiterin. Die Überlastung trägt teilweise absurde Blüten: Wenn die Flut der Anträge zu groß wird, würden unkonventionelle Maßnahmen ergriffen, deutet ein Mitarbeiter an.
„Es verschwinden auch schon mal Sachen“, sagt er und nickt vielsagend zu einem Aktenschredder in der Ecke. „Aber das sind keine offiziellen Geschichten.“ Auch eine ehemalige Jobcenter-Angestellte berichtet Wallraff von Arbeitsvermittlern, die Briefe ungeöffnet im Müll verschwinden ließen.
Mehr Personal statt purem Geldeinsatz
Davon habe niemand etwas, sagt Heinrich Alt, Vorstandsmitglieder der Bundesagentur für Arbeit. Schließlich stehe hinter jeder Akte ein Mensch, der bald schon wieder im Jobcenter sei.
Konfrontiert mit Vorwürfen zu unnötigen Maßnahmen, hoher Arbeitsbelastung und langen Bearbeitungszeiten reagiert Alt immer auf dieselbe Weise: Einzelfälle seien das, seine Statistiken zeichneten ein anderes Bild der Arbeitsagentur. Wenn es aber solche Fälle gebe, müsse denen nachgegangen und dringend nachgebessert werden.
Der Vorstandsvorsitzende der Arbeitsagentur, Frank-Jürgen Weise, sagt auf Nachfrage Wallraffs, er wünsche sich mehr Personal statt purem Geldeinsatz bei der Arbeitsagentur.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles wollte sich zu den Recherchen nicht äußern. „Aber wir sind immer offen für Gespräche, auch nach der Recherche“, sagt Wallraff aus dem Off.