Transsibirische Eisenbahn Auf der Suche nach der langen Weile

Die Transsibirische Eisenbahn weckt bis heute das Fernweh (Aufnahme von 1991). Quelle: Getty Images

Je ruheloser der Alltag, desto beruhigender die Fantasie vom endlosen Unterwegssein im Zug. Die legendärste aller Strecken ist in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Die Eindrücke einer Fahrt.

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Der Weckruf tönt um vier Uhr nachts. Russische Schlagermusik dröhnt blechern aus den Lautsprechern. Das Licht im Waggon wird angeschaltet. Noch mehr als zwei Stunden bis Moskau, und trotzdem steht die Frau mit dem streng zurückgekämmten Haar, den signalrot geschminkten Lippen und dem engen Schaffnerinnen-Kostüm zwischen den Stockbetten und kontrolliert, ob auch alle aufstehen.

Seit Tagen ist sie unsere Chefin. Abends macht sie das Licht im Gang aus und schimpft mit mütterlicher Strenge, wenn jemand zu laut ist. Zweimal am Tag läuft sie mit dem Staubsauger durch den Waggon. Sie ist es, die wir ansprechen, wenn der Samowar kein heißes Wasser mehr hat, und sie ist es, die zugestiegene Passagiere zu ihrem Platz bringt. Zu jenen zwei Quadratmeter Habitat für die nächsten Tage.

Die längste Zugreise der Welt

Es gibt berühmte Bahnstrecken, spektakuläre Routen, zum Beispiel den Empire Builder von Chicago durch die Prärien bis zur amerikanischen Westküste oder den Darjeeling Himalayan Railway in Westbengalen. Den Standard jedoch setzt die Transsibirische Eisenbahn. Vor einem Jahrhundert, im Oktober 1916, wurde die legendäre Zuglinie eröffnet. Normalerweise werden technische Wunderwerke schnell übertroffen, und Sehnsuchtsorte wechseln je nach Zeitgeist. Die Transsib jedoch ist bis heute der Superlativ aller Eisenbahnromantiker.

Hochgeschwindigkeitszüge in anderen Ländern

Keine Zugreise der Welt dauert länger, keine Gleislinie verläuft so weit: mehr als 9200 Kilometer quer durch Eurasien, zwischen Wladiwostok und Moskau, über neun Zeitzonen und zwei Kontinente, Schienen, die den halben Globus umspannen. Schon ihr Name klingt nach Exotik, nach unentdeckter Weite, nach unendlicher Fahrt.

Die Transsib weckt bis heute das Fernweh, trotz oder vielleicht gerade aufgrund der Möglichkeiten beschleunigter, globaler Mobilität. Hier geht es nicht um die schnelle Durchreise, die Transsib verspricht etwas anderes: seelenvolle, nostalgische Bilder. Schon bevor es losgeht, stellen wir uns vor, stundenlang durch Birkenwälder zu fahren, in russischen Romanen zu versinken und großartigen Ideen nachzusinnen. Und tastsächlich: Das monotone Rattern lädt zum Schweifenlassen der Gedanken, zur träumerischen Meditation. Bewegung und Aufenthalt, Ruhe und Unruhe fließen hier ununterscheidbar ineinander: Auf wohl keiner anderen Zugstrecke wird der Weg so sehr zum Ziel, fühlt sich der Reisende im Transit so zu Hause, erwartet er mit jedem zurückgelegten Kilometer ein endgültiges Loslösen aus dem Zeit-Raum-Korsett ...

Für die einen ein Zug, für die anderen Nostalgie pur

Da steht die Schaffnerin mit herausgestreckter Brust vor mir und tadelt mich, weil meine Decke vom Bett gefallen ist. Die rund 50 Mitfahrer im Waggon – fast alle Russen – haben die ihre längst akkurat zusammengelegt und sitzen ungeduldig neben ihren gepackten Taschen: eine ältere Frau, die in Moskau eine Freundin besuchen möchte, 20 Teenager, die eine Klassenfahrt machen, und ihre Lehrerin, für die der anstrengendste Teil der Reise erst beginnt. Einige Zuggäste haben sperriges Gepäck dabei, andere leiden unter Flugangst oder fahren aus Kostengründen mit dem Zug.

So überstehen Sie das Pendeln
Die Deutschen sind eine Pendler-Nation Quelle: dpa
Die leeren Waggons findenEin ICE ist auf vielen Strecken nicht genug - dann spannt die Bahn zwei vollständige ICE hintereinander. Das ist die "Doppeltraktion", erklärt @pendlomator. Der Profi-Pendler und Twitterer rät, beim Einsteigen entweder ganz ans Ende oder ganz an den Anfang des Zuges zu gehen, auch wenn das einen Fußmarsch von einiger Länge auf dem Gleis erfordert. Diese Mühe sparen sich viele. "Deswegen sind in den Waggons weniger Menschen, das heißt mehr Ruhe, also angenehmeres Reisen." Quelle: AP
Waggon richtig wählen Wählen Sie bei der Reservierung den Waggon , der beim Aussteigen den kürzesten Weg zum Taxistand hat, empfiehlt, Sascha Hüsing, der seine Reiseerlebnisse in dem Blog im-zug-unterwegs.de niederschreibt. Im Kopfbahnhof Frankfurt wäre das der vordere Waggon, bei Bahnhöfen wie Hamburg oder Düsseldorf eher mittig gelegene Waggons. Das spart Zeit und lange Fußmärsche. Quelle: dpa
Eine clevere Bahnhofswahl treffenDer vermeintliche Startbahnhof der Reise ist nicht unbedingt immer die beste Wahl, um bei vollen Zügen einen Sitzplatz zu ergattern. Es lohnt sich, gegen die Fahrtrichtung eine Station mit S-Bahn oder Regionalexpress zurückzulegen, raten Profipendler. Das funktioniert in Berlin beispielsweise mit den Stationen Gesundbrunnen oder Ostbahnhof, in Hamburg mit Altona und Dammtor und in Frankfurt mit Fernbahnhof oder gar Darmstadt und Marburg. Quelle: dpa
Hauptsache vorankommenWer keine Direktverbindung hat, ist von Verspätung oft noch ärger betroffen, da die Anschlusszüge nicht warten. Profipendler @pendlomator rät deswegen als eiserne Regel: "Strecke machen. Grundregel bei verspäteten Zügen: Nimm das erste, was fährt." Das bedeutet auch, gegebenenfalls die Reservierung verfallen zu lassen und in den nächsten Zug zu steigen, der einem dem Ziel näher bringt, wenn schon nicht ganz dorthin. Verspätungen können sich auch noch auf dem Bahnsteig verlängern und der Zug, der einen zumindest etwas näher bringt, ist fort. Quelle: dpa
Mit dem leider alltäglichen Horror umgehenFür die Lokführer ist es am schlimmsten. Die schnellen ICE werden immer wieder von Menschen gewählt, um sich das Leben zu nehmen. Die Personenunfälle, kurz PU, erfordern den Einsatz von Rettungskräften, auch wenn diese in der Regel nichts mehr ausrichten können. Auf den Ablauf des Schienenverkehrs haben diese Vorfälle eine große Auswirkung. Die Verspätungen, die ein PU auf dieser Strecke verursachen, gehen schnell auf mehr als 120 Minuten. Die Bahn leitet dann nachfolgende Züge um. Das nimmt jedoch deutlich mehr Fahrtzeit in Anspruch. Pendler Hüsing rät, möglichst mit Geschick und Einfühlungsvermögen von den Zugbegleitern zu erfahren, wie lange der Unfall her ist und dann zu entscheiden. Ist der PU länger als zwei Stunden her, dann keine Umleitung fahren. Die Schwierigkeit liegt darin, den Zeitpunkt zu erfragen. Quelle: dpa
Den Zub und Twitter fragenDie Zugbegleiter, kurz Zubs, sind die Überbringer der schlechten Nachricht. Im Zug müssen sie - kaum besser informiert als die Passagiere - mitteilen, dass eine Verspätung anfällt und wie lange es noch dauert. Alle Profi-Pendler raten deshalb zur Höflichkeit gegenüber den Mitarbeitern. Auch wenn sie die Bahn in dem Moment vertreten - für die Ursache können sie nichts. Als Informationsquelle empfiehlt der twitter-Pendler @pendlomator auch diesen Kurznachrichtendienst. Entweder über das Social Media Team der Bahn oder Menschen an Bahnhöfen bekommt man so bisweilen früher Infos über die Ursachen einer Verspätung als vom Zugbegleiter. Quelle: dpa

Ist für die Russen die Transsib vor allem ein profanes Transportmittel, so fährt der „Westler“ auf den Spuren von „Doktor Schiwago“. Im Sonderzug Zarengold zahlen die Reisenden zwischen 4000 und 13.000 Euro und bekommen dafür komfortable Zweierkabinen mit ausreichend Steckdosen und einem Animationsprogramm, Wodka-Probe inklusive. Im Linienzug hingegen ist Alkohol verboten. Wer den Flachmann auspackt, wird von der Schaffnerin ermahnt, meist trifft es Touristen. Sie buchen die Zweier- und Viererabteile in den Standardzügen, die meisten Russen fahren dritter Klasse: ein ruckelndes Lager mit mehr als 50 Pritschen, immer vier in einer Einbuchtung.

Die Transsib ist schon lange nicht mehr Luxus

Der Wagen ist ein paar Tage unser Schlaf- und Wohnzimmer auf Schienen. Frauen ziehen ihre Plüschpantoffeln an, Männer sitzen im Feinrippunterhemd auf ihren Betten. In der Luft hängt permanent ein Geruch von Kaffee und Tütensuppen, aus dem Samowar gibt es für alle umsonst heißes Wasser. Während draußen der sibirische Winter in Minus-Zwanziger-Graden klirrt, wird der Wagen auf 23 Grad geheizt.

„Um ehrlich zu sein: Die Reise war nicht anstrengend. Es genügte, wenn man sich hinsetzte und schmutziger und schmutziger wurde“, berichtet die norwegische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Sigrid Undset nach ihrer Transsib-Fahrt 1940. Wie anders wirken da die Bilder der poetischen Fiktion. Die Transsib ist seit jeher Fantasiemaschine und Projektionsfläche: Im russischen Film „Der Barbier von Sibirien“ von Nikita Michalkow wird sie zum Vehikel für ein nostalgisches Liebesepos, in Josef Martin Bauers Roman „So weit die Füße tragen“, der zuletzt 2001 verfilmt wurde, bildet sie den Hintergrund für eine abenteuerliche Nachkriegsgeschichte: Mit der Transsib werden Tausende von deutschen Kriegsgefangenen in sibirische Gefangenschaft verbracht, einer kann später fliehen, knapp die Hälfte von ihnen stirbt – auf derselben Route, auf der die Reisenden heute unterwegs sind.

Transsib-Touristen schätzen die Ruhe

Wenn die stählerne Wagenschlange durch die Taiga rattert, werden natürlich ganz andere Geschichten erzählt, vor allem in der dritten Klasse. Wir sind keine zwei Stunden unterwegs, da kommen zwei Mädchen an mein Bett und fragen, wie das Leben in Deutschland sei, warum ich nicht mit dem Flugzeug nach Moskau fliege, was doch viel komfortabler sei. Auch das hat sich geändert: Früher fuhren die Menschen mit der Transsib, weil sie unterwegs Luxus genießen wollten. Auf der Pariser Weltausstellung 1900 wurden vier Waggons der Vorläuferstrecke als Schaustücke des modernen Reisens vor den Eiffelturm gestellt, inklusive Pianobar, Friseursalon und Badewanne. Das Zugrestaurant war auf Wochen ausgebucht.

Heute hingegen wird Luxus womöglich auch im Verzicht gesucht, im Genuss immaterieller Dinge. Der Transsib-Tourist schätzt vor allem die Ruhe, das ungestörte Bei-sich-Sein. Während wir uns zu Hause über jede verspätete ICE-Minute ärgern und unsere Freizeit möglichst effizient organisieren, genießen wir hier das tagelange Ausharren, den Leerlauf der Zeit. Es kann uns gar nicht langsam genug gehen. Denn wer auf seiner Zugpritsche sitzt, hat keine Eile, er reist gründlicher, fährt behutsamer ab, kommt überlegter an – und entdeckt die Sensationen der langen Weile: Am ersten Reisetag bringt mir meine mitfahrende Freundin das Stricken bei, am zweiten Tag ist mein Schal schon einen halben Meter lang. Andere lösen hefteweise Kreuzworträtsel. Die Schulklasse spielt von morgens bis abends das gleiche Kartenspiel. Am Ende weiß ich allein aus Beobachtung, welche die beste Siegstrategie ist.

Das sind die aktuellen Superzüge
Deutschland: ICE Quelle: DPA
Italien: Alstom Pendolino Quelle: PR
Italien: Frecciarossa 1000 Quelle: DPA
Spanien: AVE Quelle: AP
Spanien: AVE auf Jungfernfahrt (1992) Quelle: Handelsblatt
Frankreich: TGV Quelle: DPA
TGV-Modell 1981 Quelle: DPA

Und vielleicht ist das nicht der geringste Grund, weshalb die meisten Menschen voll Fernweh seufzen, wenn sie an die legendäre Route der Transsib denken: Die 167 Stunden und 22 Minuten Fahrt bieten alle Zeit der Welt für Gespräche und Tagträume, für Gedankenspiele oder tagelanges Ausschlafen.

Gewiss, viele wollen einfach nur nach Moskau. Entlang der Transsib-Route zeigen die Uhren immer die aktuelle Uhrzeit der Hauptstadt an. Dem Touristen im Zug kann das gleichgültig sein: Für ihn versinkt die Zeit in Nichtigkeit.

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