Der Weckruf tönt um vier Uhr nachts. Russische Schlagermusik dröhnt blechern aus den Lautsprechern. Das Licht im Waggon wird angeschaltet. Noch mehr als zwei Stunden bis Moskau, und trotzdem steht die Frau mit dem streng zurückgekämmten Haar, den signalrot geschminkten Lippen und dem engen Schaffnerinnen-Kostüm zwischen den Stockbetten und kontrolliert, ob auch alle aufstehen.
Seit Tagen ist sie unsere Chefin. Abends macht sie das Licht im Gang aus und schimpft mit mütterlicher Strenge, wenn jemand zu laut ist. Zweimal am Tag läuft sie mit dem Staubsauger durch den Waggon. Sie ist es, die wir ansprechen, wenn der Samowar kein heißes Wasser mehr hat, und sie ist es, die zugestiegene Passagiere zu ihrem Platz bringt. Zu jenen zwei Quadratmeter Habitat für die nächsten Tage.
Die längste Zugreise der Welt
Es gibt berühmte Bahnstrecken, spektakuläre Routen, zum Beispiel den Empire Builder von Chicago durch die Prärien bis zur amerikanischen Westküste oder den Darjeeling Himalayan Railway in Westbengalen. Den Standard jedoch setzt die Transsibirische Eisenbahn. Vor einem Jahrhundert, im Oktober 1916, wurde die legendäre Zuglinie eröffnet. Normalerweise werden technische Wunderwerke schnell übertroffen, und Sehnsuchtsorte wechseln je nach Zeitgeist. Die Transsib jedoch ist bis heute der Superlativ aller Eisenbahnromantiker.
Hochgeschwindigkeitszüge in anderen Ländern
In Italien konkurrieren zwei Anbieter von Schnellzügen um die Kunden. Neben der Staatsbahn Trenitalia gibt es seit 2012 auch die privaten Italo-Züge. Italo bedient mit seinen schnellen und modernen Zügen des französischen Konzerns Alstom weniger Strecken als Trenitalia, setzt aber vor allem auf Komfort und Service. So gibt es in der ersten Klasse Essen am Platz, dazu kommen Wlan und die Möglichkeit eines eigenen Unterhaltungsprogramms. Trenitalia hat vor kurzem seinen neuen Frecciarossa 1000 präsentiert, der bis zu 400 Stundenkilometer schnell fährt. Die Freccia-Züge setzen eher auf gute Verbindungen, hohe Geschwindigkeit und wenige Haltepunkte. In den Schnellzügen beider Anbieter gilt generell eine Reservierungspflicht.
In Spanien hebt das staatliche Eisenbahnunternehmen Renfe vor allem die Pünktlichkeit der mit Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 310 Stundenkilometern fahrenden Schnellzüge hervor. Ab Herbst sollen die Waggons zunächst auf der Strecke zwischen Madrid und Barcelona mit Wlan ausgestattet werden. Der Hochgeschwindigkeitszug AVE hat im Juli 1,84 Millionen Reisende transportiert und damit einen neuen Rekord aufgestellt. Mit einem Streckennetz von knapp 3150 Kilometern ist das AVE-System im europäischen Highspeed-Sektor führend. In den kommenden Jahren soll das Netz für rund zwölf Milliarden um weitere 1850 Kilometer erweitert werden. Geplant sind außerdem 30 neue Züge im Wert von 2,65 Milliarden Euro.
In Frankreich soll 2022 eine neue Generation des Hochgeschwindigkeitszugs TGV in Betrieb gehen. Das Modell wird vom Bahnkonzern SNCF und dem Siemens-Rivalen Alstom gemeinsam entwickelt. Der neue TGV soll billiger und sauberer werden und in der Anschaffung sowie im Betrieb mindestens 20 Prozent günstiger sein. Geplant ist außerdem, den Energieverbrauch um mindestens ein Viertel zu senken. Der erste TGV ging 1981 an den Start und war der Vorreiter der Hochgeschwindigkeitszüge in Europa. Er verbindet die wichtigsten Städte des Landes. Die mehr als 400 Kilometer von Paris bis Lyon schafft er mit teilweise über 300 Stundenkilometern in rund zwei Stunden.
Der wohl bekannteste Schnellzug in Großbritannien ist der Eurostar, der Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 320 Kilometern pro Stunde erreichen kann. Seit Ende 2015 ist das Modell e320 von Siemens im Einsatz und verbindet London, Paris und Brüssel. Auf der Hochgeschwindigkeitstrasse High Speed 1 (HS 1) zwischen London und dem Eurotunnel fährt aber auch der sogenannte Class 395 „Javelin“ der britischen Eisenbahngesellschaft Southeastern Railway, der 225 Stundenkilometer erreicht. Gestritten wird wegen hoher Kosten über eine Nord-Süd-Trasse (HS 2) zwischen London, Birmingham, Sheffield, Manchester und Leeds. Der Bau der Strecke soll 2017 beginnen - das Parlament hat aber bisher nur für einen Teil grünes Licht gegeben.
In Polen setzt die Staatsbahn PKP auf Schnelligkeit und Komfort. Für umgerechnet etwa sieben Milliarden Euro ließ das Unternehmen seit 2012 Schienennetz, Bahnhöfe und Züge erneuern. Zum Modernisierungsprogramm gehört etwa der Kauf der elektrischen Triebzüge ED250 Pendolino des Herstellers Alstom. Sie erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern. Für eine bequeme Reise sorgen ausziehbaren Sitze, individuelle Beleuchtung und Steckdosen an jedem Platz. Diesen Komfort in der Kategorie Express InterCity Premium (EIP) soll sich mittels Frühbucherrabatten jeder leisten können. Tickets gibt es ab umgerechnet 11 Euro. Ein Imbiss und sowie ein Getränk an Bord sind im Preis inbegriffen.
Japans derzeit schnellster Zug ist der Shinkansen. Da der Eisenbahnbetrieb auf nationaler Ebene seit den 1980er Jahren privatisiert ist, gibt es mehrere Betreiber für die Hochgeschwindigkeitszüge. Die meist befahrene Strecke zwischen Tokio und Osaka fällt unter die Zuständigkeit des Bahnunternehmens JR Tokai. Dieses verfolgt angesichts des immer heftigeren Konkurrenzkampfes mit Billigfliegern die Ziele, schneller, komfortabler und sicherer zu werden, ohne dabei die Preise zu senken. Mit einem neuen Bremssystem sollen die rund 130 Züge zudem mit einer Höchstgeschwindigkeit von 285 km pro Stunde fahren können.
Keine Zugreise der Welt dauert länger, keine Gleislinie verläuft so weit: mehr als 9200 Kilometer quer durch Eurasien, zwischen Wladiwostok und Moskau, über neun Zeitzonen und zwei Kontinente, Schienen, die den halben Globus umspannen. Schon ihr Name klingt nach Exotik, nach unentdeckter Weite, nach unendlicher Fahrt.
Die Transsib weckt bis heute das Fernweh, trotz oder vielleicht gerade aufgrund der Möglichkeiten beschleunigter, globaler Mobilität. Hier geht es nicht um die schnelle Durchreise, die Transsib verspricht etwas anderes: seelenvolle, nostalgische Bilder. Schon bevor es losgeht, stellen wir uns vor, stundenlang durch Birkenwälder zu fahren, in russischen Romanen zu versinken und großartigen Ideen nachzusinnen. Und tastsächlich: Das monotone Rattern lädt zum Schweifenlassen der Gedanken, zur träumerischen Meditation. Bewegung und Aufenthalt, Ruhe und Unruhe fließen hier ununterscheidbar ineinander: Auf wohl keiner anderen Zugstrecke wird der Weg so sehr zum Ziel, fühlt sich der Reisende im Transit so zu Hause, erwartet er mit jedem zurückgelegten Kilometer ein endgültiges Loslösen aus dem Zeit-Raum-Korsett ...
Für die einen ein Zug, für die anderen Nostalgie pur
Da steht die Schaffnerin mit herausgestreckter Brust vor mir und tadelt mich, weil meine Decke vom Bett gefallen ist. Die rund 50 Mitfahrer im Waggon – fast alle Russen – haben die ihre längst akkurat zusammengelegt und sitzen ungeduldig neben ihren gepackten Taschen: eine ältere Frau, die in Moskau eine Freundin besuchen möchte, 20 Teenager, die eine Klassenfahrt machen, und ihre Lehrerin, für die der anstrengendste Teil der Reise erst beginnt. Einige Zuggäste haben sperriges Gepäck dabei, andere leiden unter Flugangst oder fahren aus Kostengründen mit dem Zug.
Ist für die Russen die Transsib vor allem ein profanes Transportmittel, so fährt der „Westler“ auf den Spuren von „Doktor Schiwago“. Im Sonderzug Zarengold zahlen die Reisenden zwischen 4000 und 13.000 Euro und bekommen dafür komfortable Zweierkabinen mit ausreichend Steckdosen und einem Animationsprogramm, Wodka-Probe inklusive. Im Linienzug hingegen ist Alkohol verboten. Wer den Flachmann auspackt, wird von der Schaffnerin ermahnt, meist trifft es Touristen. Sie buchen die Zweier- und Viererabteile in den Standardzügen, die meisten Russen fahren dritter Klasse: ein ruckelndes Lager mit mehr als 50 Pritschen, immer vier in einer Einbuchtung.
Die Transsib ist schon lange nicht mehr Luxus
Der Wagen ist ein paar Tage unser Schlaf- und Wohnzimmer auf Schienen. Frauen ziehen ihre Plüschpantoffeln an, Männer sitzen im Feinrippunterhemd auf ihren Betten. In der Luft hängt permanent ein Geruch von Kaffee und Tütensuppen, aus dem Samowar gibt es für alle umsonst heißes Wasser. Während draußen der sibirische Winter in Minus-Zwanziger-Graden klirrt, wird der Wagen auf 23 Grad geheizt.
„Um ehrlich zu sein: Die Reise war nicht anstrengend. Es genügte, wenn man sich hinsetzte und schmutziger und schmutziger wurde“, berichtet die norwegische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Sigrid Undset nach ihrer Transsib-Fahrt 1940. Wie anders wirken da die Bilder der poetischen Fiktion. Die Transsib ist seit jeher Fantasiemaschine und Projektionsfläche: Im russischen Film „Der Barbier von Sibirien“ von Nikita Michalkow wird sie zum Vehikel für ein nostalgisches Liebesepos, in Josef Martin Bauers Roman „So weit die Füße tragen“, der zuletzt 2001 verfilmt wurde, bildet sie den Hintergrund für eine abenteuerliche Nachkriegsgeschichte: Mit der Transsib werden Tausende von deutschen Kriegsgefangenen in sibirische Gefangenschaft verbracht, einer kann später fliehen, knapp die Hälfte von ihnen stirbt – auf derselben Route, auf der die Reisenden heute unterwegs sind.
Transsib-Touristen schätzen die Ruhe
Wenn die stählerne Wagenschlange durch die Taiga rattert, werden natürlich ganz andere Geschichten erzählt, vor allem in der dritten Klasse. Wir sind keine zwei Stunden unterwegs, da kommen zwei Mädchen an mein Bett und fragen, wie das Leben in Deutschland sei, warum ich nicht mit dem Flugzeug nach Moskau fliege, was doch viel komfortabler sei. Auch das hat sich geändert: Früher fuhren die Menschen mit der Transsib, weil sie unterwegs Luxus genießen wollten. Auf der Pariser Weltausstellung 1900 wurden vier Waggons der Vorläuferstrecke als Schaustücke des modernen Reisens vor den Eiffelturm gestellt, inklusive Pianobar, Friseursalon und Badewanne. Das Zugrestaurant war auf Wochen ausgebucht.
Heute hingegen wird Luxus womöglich auch im Verzicht gesucht, im Genuss immaterieller Dinge. Der Transsib-Tourist schätzt vor allem die Ruhe, das ungestörte Bei-sich-Sein. Während wir uns zu Hause über jede verspätete ICE-Minute ärgern und unsere Freizeit möglichst effizient organisieren, genießen wir hier das tagelange Ausharren, den Leerlauf der Zeit. Es kann uns gar nicht langsam genug gehen. Denn wer auf seiner Zugpritsche sitzt, hat keine Eile, er reist gründlicher, fährt behutsamer ab, kommt überlegter an – und entdeckt die Sensationen der langen Weile: Am ersten Reisetag bringt mir meine mitfahrende Freundin das Stricken bei, am zweiten Tag ist mein Schal schon einen halben Meter lang. Andere lösen hefteweise Kreuzworträtsel. Die Schulklasse spielt von morgens bis abends das gleiche Kartenspiel. Am Ende weiß ich allein aus Beobachtung, welche die beste Siegstrategie ist.
Und vielleicht ist das nicht der geringste Grund, weshalb die meisten Menschen voll Fernweh seufzen, wenn sie an die legendäre Route der Transsib denken: Die 167 Stunden und 22 Minuten Fahrt bieten alle Zeit der Welt für Gespräche und Tagträume, für Gedankenspiele oder tagelanges Ausschlafen.
Gewiss, viele wollen einfach nur nach Moskau. Entlang der Transsib-Route zeigen die Uhren immer die aktuelle Uhrzeit der Hauptstadt an. Dem Touristen im Zug kann das gleichgültig sein: Für ihn versinkt die Zeit in Nichtigkeit.