Herr Krüger, Sie forschen zur Geste des ausgestreckten Mittelfingers und kennen die Jahrtausende alte Historie. Aber zunächst: Wann haben Sie zuletzt selbst den Mittelfinger gezeigt? Im Straßenverkehr, wo er zum guten Ton gehört?
Ich bin im Autoverkehr eher gelassen. Ich weiß, woher der Ärger herkommt. Ich lasse mich dadurch nicht provozieren. Ich fahre vielleicht an dem Gegenüber so vorbei, dass mein Mittelfinger an der Wange ruht und die Hand den Kopf stützt und fahre ohne hinzusehen weiter. Das ist die euphemistische Verwendung des Mittelfingers. Und die ist niemals justiziabel.
Sind Sie nie in Versuchung, ihre Kenntnisse über die verschiedenen Bedeutungen der gleichen Geste anzuwenden?
Ich könnte den Mittelfinger höchst virtuos in verschiedenen Kulturen einsetzen. Ich wüsste, was ich in Rom machen müsste, ich wüsste, was ich in England oder in den USA machen muss für eine angemessene Wirkung. Ich würde auch in Mexiko schon richtig verstanden. Ich habe mir das durch entsprechendes Handtraining angeeignet, so wie man eine Fremdsprache erlernen kann. Aber als Injurien gemeinte Gesten gehören nicht zu meinem Repertoire.
Vita
Der Stuttgarter Romanist Reinhard Krüger forscht seit Jahrzehnten zu der Geschichte von Gesten. Im Berliner Verlag Galiani ist nun sein Buch erschienen "Der Stinkefinger - Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste".
Dafür zu Ihrem Forschungsgebiet. Die Mittelfingergeste ist Jahrtausende alt, wird aber mittlerweile mehr oder minder offen von Politikern wie George Bush oder Barack Obama gezeigt. Regt das überhaupt noch wen auf?
Das hängt auch heute noch von der Konstellation ab. Wenn ich mit einem Freund beim Bier säße, er einen ausgegeben haben möchte, ich das aber nicht mehr zahlen will, dann zeige ich ihm den Mittelfinger in einer kameradschaftlichen, freundlichen Art und Weise. Er wird das richtig einordnen. Dann hat die Geste das gleiche Aggressionslevel, wie das Emoticon des Mittelfingers, das jetzt bei WhatsApp verwendet wird. Das ist etwas Augenzwinkerndes, das unter Freunden unproblematisch ist. In Situationen, in denen der Konflikt klar ist, ist es praktisch unmöglich, das so zu sehen.
Wenn man von der Polizei angehalten wird, ...
... würde der Mittelfinger sofort als Beleidigung interpretiert. Wir haben es mit einem Spektrum von Deutungen zu tun, von legitim über „kann man aushalten“ bis zu handfester Beleidigung.
Hat es Sie gewundert, dass der damalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis damit noch so viel Aufsehen erregen konnte?
Nein, das hat mich nicht gewundert. Der ausgestreckte Mittelfinger gehört auch in Deutschland in konfliktreichen Situationen zu den gebräuchlichen Gesten. Diese Aufregung ist eher ein Sturm im Wasserglas gewesen, der von TV-Moderator Günter Jauch entfacht wurde. Er wollte hier demonstrieren, was die Griechen für unanständige Lümmel sind und insbesondere so ein marxistischer Wirtschaftsminister. Das ist der eigentliche Hintergrund der Aufregung.
Sie schildern in Ihrem Buch „Der Stinkefinger – Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste“, dass die Geste in der Spätantike über das Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit kaum bildlich festgehalten wurde und mithin etwas geringere Bedeutung hatte. Erst im 20. Jahrhundert sei sie wieder vermehrt zu sehen. War der Stinkefinger seit jeher eine Beleidigung?
Sie ist eine der ältesten Gesten, die man identifizieren kann. Nein, in ihren Anfängen ist die klar phallische Geste nicht als Beleidigung gemeint gewesen. Sie wurde als Machtdemonstration gesehen. Genau wie auf Felsritzungen der Bronzezeit und des Neolithikums Waffenträger mit erigiertem Penis zu sehen sind, der Macht demonstrieren soll. Das ist noch keine Beleidigung. Der Stinkefinger ist eher Primaten-Gebaren, mit dem demonstriert werden soll, wer der mächtigere ist.
Promis und der Mittelfinger
Zahlreiche Prominente ließen sich vorsätzlich mit gestrecktem Mittelfinger fotografieren oder wurden dabei „ertappt.“ Haben diese Bildnisse die Deutung der Geste verändert oder geschieht die Interpretation im Alltag?
Die berühmten Beispiele von Johnny Cash im Gefängnis von St. Quentin über die Rolling Stones bis Frank Zappa, Sportler, die global präsent sind, spielen bei der Deutung der Geste eine sehr große Rolle. Auf der anderen Seite gibt es eine ganz alltägliche Verbreitung dieser Geste, die nicht an die spektakulären Anwendungen gebunden sind.
Das Victory-Zeichen, das Joseph Ackermann im Gerichtssaal zeigte, erregte bei vielen Menschen Ärger, obwohl es gar keine Beleidigung ist. Hätte er auch gleich den Mittelfinger zeigen können?
Ganz sicher nicht. Das Problem Ackermanns war es, dass er diese Geste nach dem Freispruch zeigte. Es war also keine aggressive Situation mehr für ihn. Da wäre eine aggressive Geste ausgesprochen unangebracht gewesen, denn er muss ja nicht mehr seine Abwehr artikulieren. In dem festgehaltenen Augenblick ging es nur noch darum, wie er es im Bündnis mit seinen Anwälten geschafft hat, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Nichtsdestotrotz ist jemand eines ökonomischen Zuschnitts wie Ackermann sehr schlecht beraten, überhaupt eine Geste zu nutzen. Oder anders: Wenn er körpersprachlich aus der Norm fällt, die von einem Entscheidungsführer zu erwarten wäre, dann spricht das dafür, dass der Druck und der Stress so groß war, dass ich annehme, dass er sich seiner Sache nicht so sicher war.
Recht einfach: Rechtsprechung zum Thema Beleidigung
Trotz Rauchverbots pafften in einer Erfurter Disco zwei Männer. Als sich eine Studentin beschwerte, blies ihr einer der beiden eine Lunge voll feuchten Zigarettendunstes ins Gesicht. Die Studentin warf ihm als Reaktion ein Glas an den Kopf. Der Raucher zeigte die Studentin wegen Körperverletzung an. Vergebens. Die Richter sahen in der Qualm-Attacke eine demütigende Ehrverletzung. Der Glaswurf sei daher Notwehr gewesen (Amtsgericht Erfurt, 910 Js 1195/13 48 Ds).
Nach einem Drittligaspiel zwischen SSV Jahn Regensburg und Carl-Zeiss Jena gerieten in einem Regensburger Biergarten Fans beider Vereine aneinander. Eine Polizistin schaltete sich ein und wollte schlichten. Statt Dank erntete sie Spott. „Hat der Pumuckl heute auch was zu sagen?“, schrie ein Fan. Der Spruch brachte ihm zwei Monate Strafe auf Bewährung wegen Beleidigung (Amtsgericht Regensburg, 24 Ds 125 Js 16800/12).
Eine Frau bestellte in Schwaben ein Taxi zum Bahnhof. Das Taxi kam verspätet; der Zug war weg. Erbost rief die Kundin den Chef des Taxiunternehmens an: Das Unternehmen solle sie per Taxi an ihr Endziel bringen. Der Unternehmer sagte: „Leck mich am Arsch“, und legte auf. Die Beleidigungsklage der Kundin wurde abgewiesen. Der Richter klärte die Dame auf, dass im „schwäbischen Sprachgebrauch“ das beanstandete Götz-Zitat „alltäglich“ verwendet werde. Es diene dazu, ein Gespräch endgültig zu beenden oder eine „als Zumutung empfundene Bitte zurückzuweisen“ (Amtsgericht Ehingen, 2 Cs 36 Js 7167/09).
Also war auch Peer Steinbrücks Entscheidung, mit der Geste des Mittelfingers sich fotografieren zu lassen, falsch?
Bei ihm war es in gewisser Weise stimmig. Der Stinkefinger ist eine sozial niederrangige Geste, die in der Arbeiterklasse öfter verwendet wird. Mit seiner Geste nähert er sich seinen Wählern an, die aus der Arbeiterschicht kommen. Auf der anderen Seite ist Steinbrück alles andere als ein proletarischer Haudegen. Ich könnte mir vorstellen, dass es für einen jungen Gerhard Schröder, der aus schwierigen sozialen Verhältnissen kam, eine angemessenere Geste gewesen wäre.
Gibt es eine Situation, in der Sie auf Basis historischer Erfolge der Geste Managern oder Unternehmern empfehlen würden, den Mittelfinger zu zeigen?
Ich kann mir das nur sehr schlecht vorstellen. Wenn jemand völlig ungeachtet des Inhalts in einer Diskussion, in der es um hunderte Millionen zur Rettung von Banken oder hunderte Millionen zur Kürzung von Renten geht, eine solche Geste verwendet, ist das schwierig. Solche Themen sind von ihrer sozialpolitischen Relevanz so weittragend, dass eine argumentationslose Diskussion mittels Geste schlicht und ergreifend nicht der Weg sind, den man in einer politischen Kultur gehen sollte. Es gibt ein Foto, dass den Millionär Rockefeller bei einer Demonstration zeigt, wie er den Teilnehmern seinen Mittelfinger entgegenstreckt. Das ist nun in den USA geduldeter als es bei uns der Fall wäre. Aber auch da ist das ein Zeichen der Arroganz.
Gesten als Verknappung von Kommunikation sind dann immer schlecht geeignet?
Ja, auch Daumen hoch und Daumen runter sind nicht besser. Es gibt überhaupt nur ein einziges System von körpersprachlichen Zeichen, das gut funktioniert in der Wirtschaft und das ist die von den Börsenmaklern im Parkett.
Warum steht dann ausgerechnet vor der Mailänder Börse eine Skulptur, die den Stinkefinger zeigt?
Das ist ein Kunstwerk. Der Bildhauer Maurizio Catellan ist eher einzuordnen in die Gattung Spaß-Avantgarde. Der versucht, bestimmte Sachverhalte für seine Aussage zu nutzen. Wenn der nun den ausgestreckten Mittelfinger als Plastik vor die Mailänder Börse stellt, dann ist das Kritik am System. In Mailand ist besonders gut zu beobachten, wie die Menschen im Bankenviertel ihre eigene Welt erschaffen haben, die vom restlichen Leben der Stadt abgetrennt ist.
Warum funktioniert die Geste in der Popkultur als Werbung?
Wenn die Geste so ablehnend ist, wie sie sagen – warum funktioniert es in der Popkultur als Werbung?
Der von Frank Zappa mitten im Konzert in die Höhe gestreckte Mittelfinger ist ein Zeichen, mit dem er sagt, dass das alle machen sollten als Geste gegen die herrschende Elite. Hier ist es keine Aggression gegen das Publikum, sondern eine Herstellung von Gemeinsamkeit. Wenn sich die Rockmusik anti-bürgerlich definiert, dann ist die Ablehnung ein gutes Mittel, Identität zu stiften. Es hilft natürlich auch, die Verkaufszahlen nach oben zu treiben, in dem mit dieser vermeintlich non-konformistischen Geste, eine bestimmte Kundschaft angesprochen wird. Im Falle des Covers des erotischen Bildbandes der Popmusikerin Madonna, das zeigt, wie sie sich den Mittelfinger in den Mund steckt, handelt es sich wiederum klar um eine sexuelle Geste.
In seiner herkömmlichen Darstellung ist der Mittelfinger aber emanzipiert – er hat bei Frauen die gleiche Bedeutung wie bei Männern?
Nein, da gibt es keinen Unterschied. Das ist geschlechtsneutral.
So benehmen Sie sich in Deutschland richtig
Akademische Grade von Doktor an aufwärts werden bei der Anrede dem Namen vorangestellt („Herr Dr. Müller“), Diplome, Master- und Bachelor-Titel bleiben unerwähnt. Doppelnamen (Müller-Lüdenscheidt) immer vollständig nennen, Ehrentitel und öffentliche Mandate ebenfalls (Herr Bürgermeister, Frau Ministerin), aber nicht auf die Ehepartner übertragen! Komplizierter sind Adelstitel. „Graf“, „Baron“ oder „von“ sind Namensbestandteile, werden also genannt. Dafür fallen „Herr“ oder „Frau“ sowie „von“ und „zu“ weg. Richtig bei Baron zu Lippe: „Guten Tag, Baron Lippe!“ Hat der Baron auch noch promoviert: „Guten Tag, Dr. Baron Lippe!“
Privat grüßt immer, wer dazukommt oder den anderen zuerst sieht. Geschäftlich zählt allein die Hierarchie. Bei Meetings begrüßen sich aber immer jene zuerst, die sich schon kennen. Danach stellt der Rangniedrigere seine Begleitung vor, ebenso der Ranghöhere danach. Jetzt sind alle miteinander bekannt und können sich die Hand geben. Ein kurzer, sanfter Händedruck reicht – mit Blickkontakt.
Das „Du“ darf nur der Ranghöhere anbieten, nicht zwingend der Ältere. Wird es vom Chef etwa auf einer Feier und unter Alkoholeinfluss angeboten, sollte man nur dabei bleiben, wenn er sich am nächsten Morgen daran erinnern mag.
Schmeicheleien hört jeder gerne, es sei denn, sie rutschen ins Anzügliche ab. Vorsicht: Abmahnungsgefahr! Als Kollege können Sie der Kollegin (die sie gut kennen!) noch sagen: „Sie sehen heute bezaubernd aus.“ Als Chef besser nicht. Je detaillierter („Dieses Dekolleté, Ihre Figur... Wahnsinn!“), desto justiziabler. Das gilt auch für betriebliche Feiern, Ein- und Ausstände. Wer schmeicheln will, lobt besser – und unverfänglicher! – Leistungen, Charakterstärken, Teamspiel.
Die Dame zuerst, gilt nur privat. Im Geschäftsleben heißt es: Untergebener hofiert Chef. „Wer hält wem die Tür auf?“ oder „Wer hilft wem in den Mantel?“ bei diesen Fragen gilt heute: Er kann helfen, sie aber auch. Falsch wäre nur, solche Gesten barsch abzulehnen.
Ihr Geschäftspartner bietet an, Sie im Auto mitzunehmen: Bloß nicht auf die Hinterbank setzen! Der Typ ist kein Chauffeur. Werden Sie im Taxi chauffiert, sitzt der Ehrengast hinten rechts – optimal zum Ein- und Aussteigen. Wer zahlt, sitzt hinter dem Fahrer oder daneben.
Auch im Büro gibt es Schutz- und Distanzzonen. Beim Plausch auf dem Flur oder im Meeting empfinden Menschen eine Distanz von 60 Zentimetern als Intimzone – sie bleibt guten Freunden vorbehalten. Ein Meter ist nahe genug für Geschäftsdialoge, ein bis zwei Meter in Gruppen. Wer Vertrauen herstellen will, erreicht das besser, indem er Körperhaltung, Sprechweise und Wortwahl angleicht.
Höfliche Menschen sind pünktlich. Das gilt auch für Chefs, die ihren Rang gerne dokumentieren, indem alle auf sie warten müssen. Stillos!
Beim lockeren Parlieren geht‘s darum, sich gegenseitig kennenzulernen, Gemeinsamkeiten zu betonen, eine gute Atmosphäre zu schaffen. Als Einstieg eignen sich Bemerkungen über das Ambiente, in dem man sich gerade trifft – oder über das Essen, den Wein, das Wetter. Alle Bemerkungen sollten positiv sein, Kritik ist ebenso tabu wie politische, religiöse oder weltanschauliche Diskussionen.
Wer anruft, grüßt und stellt sich vor; wer angerufen wird, nennt mindestens seinen Namen, nie aber in der dritten Person („Hier ist Herr Müller“). Peinlich sind zu laute Klingeltöne. Diskreter ist der Vibrationsalarm – erst recht in Sitzungen. Wer an öffentlichen Orten telefoniert, nennt keine Namen! Man weiß nie, wer mithört.
Im Meeting übergibt der Besucher als Erster seine Karte – in Gruppen erhält sie zuerst der Ranghöchste. Ist die Hierarchie nicht erkennbar, werden die Karten reihum verteilt, beginnend mit der nächsten Person. Karten nie ungelesen wegstecken!
Wenn der Aperitif vor dem Essen gereicht wird, sollte das Glas nicht zum Tisch mitgenommen werden; das erledigen Kellner. Eingedeckte Gläser werden von rechts nach links, Besteck von außen nach innen verwendet. Gläser werden nur bis zum ersten Drittel eingeschenkt und nur am Stiel angefasst, falls sie einen haben.
Es wird nicht getrunken, bevor der Gastgeber dazu aufgefordert hat. „Guten Appetit“ wird kaum noch gewünscht. Kommt das vom Gastgeber und Koch, riecht es nach Eigenlob; wünscht es der Gast, könnte man meinen, es sei nötig. Wünschen Sie lieber einen netten Abend und gute Gespräche. Und angestoßen wird nur mit weinhaltigen Getränken, zunicken und zuprosten ist aber dezenter. Cheers!
Einmal aufgenommenes Besteck berührt die Tischdecke nicht wieder, bei Pausen wird es auf dem Teller geparkt.
Erlaubt ist, jederzeit zum Büfett zu gehen, um einen weiteren Gang zu holen. Tabu ist hingegen, den Teller bis zum Anschlag vollzupacken. Speisen nie am Büfett verzehren oder probieren! Und nie mit gebrauchtem Geschirr zurück ans Büfett (Ausnahme: privat).
Das Brot vor dem Essen ist keine Vorspeise, sondern eine Beilage zur Vorspeise. Es wird nur gebrochen, nie wie eine Stulle mit Butter bestrichen und gegessen! Richtig: Brot in Happen brechen, jedes Stück einzeln bestreichen und essen.
Heiße Getränke, die in Tassen nach dem Essen gereicht werden, dürfen erst serviert werden, wenn alle Besteckteile (Messer, Gabel, Teller) abgeräumt sind.
Artischocken, Austern, Canapés, Garnelen, Muscheln, Spareribs, Wachteln dürfen mit den Fingern gegessen werden. Ebenso Geflügel – aber nur, wenn es nicht anders geht.
Sie stoßen ein Weinglas um und bekleckern den Nachbarn: alles kein Desaster! Bitten Sie den Kellner diskret heran. Er beseitigt die Spuren. Den Nachbarn bitten Sie um Entschuldigung und bieten an, für etwaige Reinigungskosten aufzukommen. Sind nur Sie betroffen, ziehen Sie sich diskret auf die Toilette zurück.
Gastgeber mit Stil fragen: Was halten Sie von einem Menü? Wollen wir eine Vorspeise nehmen? Möchten Sie Wein dazu trinken? Anschließend passt er sich den Wünschen der Gäste an und lässt ihnen bei der Bestellung den Vortritt. Er bezahlt auch nicht am Tisch, sondern am Empfang.
Wird ausgebreitet und einmal gefaltet auf den Schoß gelegt. Fällt sie beim Essen runter, bitten Sie das Personal um eine neue. Nicht aufheben! Wer aufstehen muss, legt die Serviette locker links neben den Teller (amerikanisch: auf den Stuhl). Der Gastgeber deutet mit derselben Geste an, dass das Essen beendet ist.
Niemals bei Tisch! Make-up auffrischen, Lippenstift nachziehen, Augen nachtuschen – dazu zieht sich die Dame stets zurück.
Einzig richtig: nicht pusten, nicht mit dem Brot tunken, den Löffel nur mit der Spitze zum Mund führen. Cremesuppen und Suppen mit Einlagen werden nur ausgelöffelt, klare Brühen dürfen auch ausgetrunken werden.
Bedeutet gehobene Freizeitkleidung, also: Baumwollhose, Polohemd, Jackett. Beim Business Casual putzen sich die Leute mehr heraus: Frauen tragen Kostüm oder Hosenanzug, nicht zu hohe Schuhabsätze, unsichtbare Zehen. Männer tragen eine Kombination, die Krawatte kann im Schrank bleiben.
Meist bei Einladungen nach der Arbeit. Konservativ: Er trägt Anzug, aber keine Brauntöne. Sie: Kostüm oder Hosenanzug, aber keine großen Handtaschen mit Schulterriemen. Einzig richtig: Clutchbags – kleine Handtäschchen ohne Riemen. Rocklänge: nie kürzer als eine Handbreit über dem Knie.
Damen: halblange, elegante Kleider; Herren: dunkelgraue oder schwarze Anzüge.
Gerne zu Abendanlässen. Er: Smoking, Hemd mit Doppelmanschetten, Kummerbund und Einstecktuch, schwarze Fliege, schwarze Schuhe. Sie: schwarze lange Robe, Tasche (kleiner als der Kopf). Accessoires gerne farbig.
Er: Frack, weiße Weste mit tiefem Ausschnitt, Stehkragenhemd mit verdeckter Knopfleiste, weiße Fliege, Lackschuhe. Sie: bodenlanges Abendkleid in Schwarz, Weiß oder Grau (Schultern bei Ankunft bedeckt). Zum Ballkleid geschlossene Schuhe mit Seidenstrümpfen. Findet der Ball im Hochsommer statt, auch hohe Sandaletten – dann ohne Strümpfe.
Zu eleganten Partys und Vernissagen ab 16 Uhr. Er: dunkler Anzug, Hose mit Bügelfalte, einfarbiges Hemd, dunkle Krawatte, lässiger Schnürschuh. Sie: das kleine Schwarze. Schultern, Dekolleté und Bein dürfen gezeigt werden.
Werden oft falsch zugeknöpft. So ist es richtig: Zweireiher immer geschlossen. Sakko mit zwei Knöpfen: ein Knopf geschlossen, wahlweise der untere oder der obere. Drei-Knopf-Sakko: beide oberen Knöpfe zu oder nur der mittlere. Vier-Knopf-Sakko: die beiden mittleren oder die drei oberen Knöpfe geschlossen. Fünf-Knopf-Sakko: alle Knöpfe bis auf den untersten bleiben zu. Frack: wird immer offen getragen. Weste: alle Knöpfe bis auf den untersten bleiben geschlossen.
Unter Sakkos tabu! Die Hemdmanschette muss unter dem Ärmel herausschauen. Richtig: Die Ärmel des Sakkos enden knapp über dem Handrücken, die Hemdmanschette schaut darunter einen Zentimeter heraus.
Klassisch aus weißer Baumwolle, modern aus farbiger Seide oder Kashmir. Hat nie (!) dasselbe Muster wie die Krawatte, passt aber farblich dazu.
Sie reicht exakt bis zur Gürtelschnalle, nicht länger, nicht kürzer. Der Knoten darf nie so dick werden, dass er den Kragen vom Hemd abdrückt.
Ungepflegte Galoschen enttarnen jedes stilvolle Outfit als Verkleidung. Das Minimum ist ein Paar schwarzer Schnürschuhe aus Leder. Etwa ein Oxford – glatt mit schlichter Kappe. In Braun passt er auch zu Sportjacketts oder Tweedanzügen. Der Semi-Brogue eignet sich zu gemusterten Anzügen und weichen Stoffen. Auch er hat eine Kappe, die weist aber dezente Lochmuster wie beim Brogue auf. Der wird auch Budapester genannt und passt mit seinem typischen Lochmuster auf der geschwungenen Kappe und den Seitenflügeln zu Anzügen aller Art. Wirkt aber stets etwas konservativ.
Erst die Sitznachbarn begrüßen, dann setzen. Adäquat nach der Landung. Dem Passagier in der Mitte stehen die Lehnen links und rechts zu; Gang- und Fensterplatz bekommen je eine Armlehne. Falls Sie aufstehen, bitte nicht am Vordersitz festhalten – nervt den Vordermann. Gleiches gilt für ständiges Hoch- und Runterklappen der Rückenlehne.
Bei privaten Einladungen obligat. Ein kleines Präsent, etwa eine Flasche Wein und ein Blumenstrauß (nie verpackt überreichen!), ist Pflicht.
Wer vom Tod eines Bekannten, Nachbarn, Geschäftspartners oder Kunden erfährt, sollte umgehend schriftlich kondolieren. Karten, Umschläge oder Briefpapier mit schwarzem Rand sind Hinterbliebenen vorbehalten! Für die „aufrichtige Anteilnahme“ ist Geschäftspapier ebenso tabu wie ein Fax oder die Schlussformel „Mit freundlichen Grüßen“ – besser: „Mein herzliches Beileid“. Im Business ideal: weißes Papier mit Hand beschrieben und persönlichen Zeilen zum Verstorbenen. Scheuen Sie sich nicht, fremden
Angehörigen das Beileid auszudrücken! Die meisten Hinterbliebenen freuen sich, wenn sie sehen, wie beliebt der Verstorbene war.
Wer unfreiwillig Zeuge eines Beziehungsstreits wird, zieht sich umgehend, diskret und mit einem Vorwand („Ich muss mal telefonieren“) zurück. Zurückkehren können Sie, wenn sich die Wogen hörbar geglättet haben. Dauert der Zwist länger, entschuldigen Sie sich, dass Sie jetzt besser gehen werden. Nie mehr Text als nötig: Einer der Streithähne könnte das nutzen, um weiteres Öl ins Feuer zu gießen („Siehst du, jetzt hast du unsere Gäste verprellt!“).
Sie stehen auf einer Party mit einem Langweiler zusammen. Wie stehlen Sie sich aus der Affäre? Entweder täuschen Sie einen Toilettengang vor und kommen nicht wieder. Das Manöver wird jedoch oft durchschaut. Oder Sie sagen, was Sie wirklich wollen: „Ich sehe gerade einen Kollegen/Kunden, mit dem ich gerne sprechen möchte. Bitte entschuldigen Sie mich.“ Noch besser: Sie verkuppeln Ihr Gegenüber vorher mit einem Gesprächspartner, der zu ihm passt.
Sie sind von Haus aus als Romanist und Literaturwissenschaftler dem Text verbunden. Hat die Geste eine literarische Qualität?
Meine Forschungen in der Literatur führten dazu, dass ich erkannt habe, dass in Erzähltexten nicht nur berichtet und geredet wird, sondern dass auch Körpersprache inszeniert wird. So bin ich auf diese Ebene von Sprachkunstwerken gekommen. Die Darstellung von körperlicher Kommunikation in Erzähltexten ist ein eigenes Element. Wie wird Körpersprache in der Literatur verwendet? Mit dieser Frage habe ich mich dann beschäftigt. Danach wurde ich von einem Wissenschaftler gefragt, ob ich nicht an einem Buch über Gesten mitarbeiten wolle. Es begann dann vor mehr als 20 Jahren mit dem Lexikon der Berliner Alltagsgesten. Seitdem habe ich kontinuierlich jedes Vorkommen der mir relevant erscheinenden Gesten festgehalten und gesammelt.
Sprache hat sich in den Jahrzehnten, Jahrhunderten massiv verändert, Gesten kaum. Wieso?
Gesten sind erheblich beständiger als Sprache. Gesten, die Körperliches ganz elementar ausdrücken, wie die phallische Herkunft des Mittelfingers, überdauern viele Jahrtausende. Gesten, die eher von kurzlebigeren Phänomenen ausgehen, verschwinden rasch. Ich glaube nicht, dass man in 500 Jahren noch nennenswert die Details des deutschen Faschismus kennen wird und mithin das Heben der rechten Hand so zuordnen wird. Über den Hitlergruß wird in 500 Jahren kaum noch wer was wissen. Über den gestreckten Mittelfinger schon.