Werner knallhart

Selbst-Test: Sind Sie ein Spießer?

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Alles ist spießig. Und damit nichts.

Aber wer entscheidet das? Antwort: Sie! Maßen Sie sich einfach die Urteilshoheit an. Das gilt für alles.

Sagen Sie an Silvester: "Um Punkt Mitternacht mit Sekt anzustoßen, ist aber ganz schön spießig. Es kommt doch nicht auf die Sekunde an." So ruinieren Sie treffsicher jede Tradition.

Aber auch vermeintlich Ausgefallenes! Sagen Sie: "Ein Gutschein für einen Fallschirmsprung? Steckt da jemand in der Midlifecrisis? Spießig."

Oder vermeintlich Jugendliches: "Vapiano? Wo McDonald's-Freaks abhängen, wenn es was zu feiern gibt? Spießig."

Weindekantier-Kannen, Erdbeeren zum Frühstück, Payback-Karten, Grünen-Wähler in Allwetterjacken, Facebook, Hundehalter, Katzenhalter, vegane Küche, einen schönen Fernsehabend, eine Radtour, Galāo, Eurovision Song Contest. Sie kriegen alles rhetorisch totgeschlagen, was anderen lieb und teuer ist. Wenn Sie das denn wollen.

Ich trinke noch Latte, ich stoße an Silvester auf die Sekunde pünktlich an, gucke gerne gemütlich gute Serien bei Netflix oder iTunes und ich habe mir eine Apple Watch bestellt. Und wenn Leute vor dem Restaurant rauchen, weil es drinnen verboten ist, und der Rauch zieht durch die Eingangstür hinein an meinen Tisch, dann wünsche ich mir strengere Gesetze wie in anderen Ländern, die das Rauchen direkt vor der Tür ebenso verbieten.

Und dann frage ich mich manchmal: Bist du jetzt spießig? Und dann muss ich mich zwingen, es mir egal sein zu lassen. Und das gelingt mir mit Trick Nummer zwei, einem Gedankenexperiment:

Spießer ist ja, wer sich sozialen Konventionen unterwirft. Wenn es aber in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen gerade der sozialen Konvention entspricht, unkonventionell sein zu wollen, dann ist ja just dieses Verlangen wiederum spießig, weil gesellschaftskonform.

Derjenige, der einen Flat White bestellt, um damit die gute alte Latte Macchiato zu überwinden, ist der eigentliche Spießer. Wer individuell reist, gerade weil Pauschalreisen spießig sind, ist spießig. Apple-Watch-Träger, die zu den ersten gehören wollen, sind sowas von 2015. Und damit ganz vorne - also spießig. Tja. Aber: Wer jemanden Spießer nennt, und selber nicht spießig sein will, ist es gerade. Also auch Apple-Watch-Verspotter. So argumentiert, ist jeder kleine Vorstadt-Hipster, jeder durchgestylte Punk ein Spießer par excellence.

Ergo: Alles ist spießig. Und damit nichts. Das Wort "Spießer" taugt nichts. Hauen wir es uns also gerne um die Ohren. Es schadet ja nichts. Am Ende bleibt: Wer bei seinem Handeln den Spießer-Maßstab anlegt, ist zumindest nicht sonderlich selbstbewusst.

Mit anderen Worten: Der ist uncool. Wobei: Fangen wir jetzt besser nicht an, das Wort cool auf Widersprüchlichkeiten abzuklopfen. Sonst werden wir hier nie fertig.

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