Am 12. November 2002 verschickte der Mathematiker Grigorij Perelman eine schnörkellose E-Mail an ein Dutzend Kollegen, versehen mit einer kurzen Anrede – und Zeilen, die es in sich hatten. In der E-Mail erbrachte Perelman nämlich den Beweis der Poincaré-Vermutung und löste damit eines der sieben wichtigsten Probleme der Mathematik. Sechs Jahre lang hatte er heimlich daran gearbeitet.
Sonderling oder wahnsinniges Genie?
Unspektakulärer geht es kaum. Viele seiner Kollegen hätten eine solche Entdeckung mit viel Tamtam auf einer wichtigen Konferenz gefeiert – oder in einer renommierten Fachzeitschrift veröffentlicht. Nicht so Perelman, der nach Absenden der E-Mail einfach weiter mit seiner Mutter in einer Plattenbausiedlung am Rande von Sankt Petersburg hauste: in ärmlichen Verhältnissen, mit Kakerlaken als ständigen Mitbewohnern. Haare und Nägel schneidet sich Perelman schon lange nicht mehr. Kontakt zur Außenwelt? Nahezu abgebrochen.
Als bekannt wurde, dass Perelman für seine Entdeckung die Fields-Medaille, den Nobelpreis der Mathematik, gewinnen sollte, verweigerte er die Annahme der Ehrung. Auch ein Preisgeld in Höhe von einer Million Dollar schlug er aus. Menschen, die Perelman schätzen, beschreiben ihn als Sonderling. Weniger freundliche Beobachter nennen ihn seltsam bis verrückt. Auf den Russen trifft der Ausspruch des Philosophen Seneca zu, der besagt, dass es kein Genie ohne eine Beimischung von Wahnsinn gibt.
Denn fest steht: Um eines der größten Probleme der Mathematik zu lösen, reicht es nicht aus, gut rechnen zu können. Dafür braucht es Fantasie. Die Fähigkeit, scheinbar Unvereinbares miteinander zu vereinen, um anschließend neue Ideen zu generieren – eben außergewöhnlich kreativ zu sein.
Kreative Menschen neigen zu unmoralischem Verhalten
Natürlich handelt es sich bei dem genial-seltsamen Mathematiker Perelman um ein besonders eklatantes Beispiel. Sein Schicksal ist aber gewiss kein Einzelfall. Zahlreiche Studien legen nahe, dass gerade ganz große Ideenspinner häufig schwierig im Umgang sind. Die Wissenschaftler Francesca Gino von der Harvard Business School und ihr Kollege Dan Ariely von der Duke-Universität ziehen in einer kürzlich veröffentlichten Studie gar den Schluss, dass besonders kreative Menschen zu unmoralischem Verhalten neigen.
Zum Beispiel lügen sie häufiger als andere. Das liegt zum einen daran, dass Kreativköpfe ungeduldiger sind und sich schneller langweilen. Außerdem fühlen sie sich anderen oft überlegen und tendieren zu rücksichtslosem Verhalten. Apple-Gründer Steve Jobs parkte etwa sein Auto konsequent auf dem Parkplatz für Rollstuhlfahrer. Er vertrat schlicht die Ansicht, dass ihm als CEO auch der beste Parkplatz zustehe.
Oder der deutsche Werber André Kemper. Im vergangenen Jahr geriet er durch seinen Besuch des Wiener Opernballs in die Schlagzeilen. Nicht etwa aufgrund einer spektakulären Werbeaktion – sondern weil er einen anderen Gast mit einem Faustschlag niederstreckte. Das Erstaunliche: Für Jobs wie auch Kemper hatte ihr Verhalten keinerlei berufliche Folgen. Ganz im Gegenteil: Der verstorbene Apple-Chef gilt mehr denn je als Genie, Werber Kemper entwickelt die Kampagnen für Mercedes-Benz.
Das ist allerdings Teil des Problems. Für die meisten Menschen stellt Kreativität ein so rares und wertvolles Gut dar, dass sie geneigt sind bei denjenigen, die davon im Übermaß besitzen, milder zu urteilen. Das Forscherduo Gino und Ariely glaubt, dass die Ideenspinner dieser Welt deshalb insgesamt besser behandelt werden und man ihnen schneller verzeiht.
Kreativität ist auch Sache der Gene
Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist es für knapp 23 Millionen Menschen besonders wichtig, kreativ zu sein. Kein Wunder, gehören doch mittlerweile für jeden Versicherungsangestellten Kreativtechniken wie Brainstorming und das Erstellen von Mindmaps dazu. Ob es hilft? Fraglich.
Denn auch die Gene sind nicht unschuldig daran, ob jemand außergewöhnlich kreativ ist oder nicht. Im Juni 2015 erschien im Fachblatt „Nature Neuroscience“ ein Beitrag einer Gruppe isländischer Wissenschaftler. Das Forscherteam um Kari Stefansson verglich medizinische Daten von insgesamt 86 000 Isländern mit rund 1000 Mitgliedern aus Schauspiel-, Tänzer-, Schriftsteller- und Musikerverbänden. Da-bei schauten sie sich vor allem die Erbgutabschnitte an, die bei Patienten mit Psychosen häufiger vorkommen als bei gesunden Menschen.
Was die Kreativität fördert
Der Psychologe Travis Proulx von der Universität von Kalifornien ließ Probanden sinnfreie Passagen aus Kafkas "Landarzt" lesen. In anschließenden Tests fanden sie mehr Lösungswege und schnitten besser ab als diejenigen, die eine redigierte Version gelesen hatten.
Frank Fischer von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität analysierte die Gruppenarbeiten von 300 Studenten. Vorher hatte er den Raum mit höhenverstellbaren Tischen ausgestattet. Siehe da: Teilnehmer, die zwischen Sitzen und Stehen wechselten, kamen häufiger zu richtigen Ergebnissen als nur im Sitzen - und hatten 24 Prozent mehr Ideen.
Im Schlaf findet kombinatorisches Denken statt, wie Denise Cai von der Universität von Kalifornien in San Diego 2009 bestätigen konnte. Sie ließ 77 Teilnehmer verschiedene verbale Aufgaben lösen, einige Probanden konnten zuvor ein Nickerchen halten - die lösten die Aufgaben am besten.
Der Sozialpsychologe Jens Förster von der Jacobs-Universität Bremen fand in einer Studie heraus, dass die Teilnehmer eine kniffelige Aufgabe eher lösten, wenn sie zuvor an ihren Partner gedacht hatten. Der Gedanke an Liebe lässt in die Zukunft blicken - was dabei hilft, Dinge miteinander in Beziehung zu stellen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.
In blauer Umgebung steigt der Einfallsreichtum. Ravi Mehta und Rui Zhu von der Universität von British Columbia in Vancouver ließen Freiwillige im Jahr 2009 verschiedene Aufgaben lösen - roter Hintergrund verbesserte zwar die Leistung bei der Detailaufgabe, blau jedoch die Kreativität.
Das Ergebnis: Stefansson und sein Team konnten herausfinden, dass Psychosen und Neurosen weitaus häufiger bei Künstlern, Schriftstellern und anderen Berufskreativen auftreten als in der Durchschnittsbevölkerung. Bis zu 17 Prozent höher liegt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Merkmale bei ihnen vorkommen. Danach untersuchten die Wissenschaftler weitere Datensätze aus Schweden und den Niederlanden nach Auffälligkeiten, insgesamt noch einmal 35.000 Menschen. Und siehe da: Beim zweiten Versuch lag das Risiko der entsprechenden Genvariante bei den Kreativen sogar um 25 Prozent höher.
Für die Autoren war das Ergebnis nicht sonderlich überraschend. Um kreativ zu sein, so deren Begründung, müsse man eben anders denken als die Masse. Besonders kreative Gehirne funktionieren offener, assoziativer. Die Betroffenen sind dadurch neugieriger und können die Welt stets mit einem frischen Blick betrachten. Doch der Grat zwischen anders und krank ist schmal. So herrscht im Gehirn der Ideenspinner mehr Chaos als anderswo. Meist ist das produktiv, manchmal aber auch zerstörerisch. Viele Superkreative zahlen für ihre Begabung, was der amerikanische Psychiater Arnold Ludwig den „Preis der Größe“ nennt.
Kreativität ergibt sich aus harter Arbeit
Wie hoch der ausfallen kann, zeigte schon eine Studie vor 20 Jahren. Wissenschaftler untersuchten darin 291 Biografien bekannter Künstler und Musiker auf Anzeichen von Persönlichkeitsstörungen, Depressionen oder Angststörungen. Ob Maler wie Vincent van Gogh, Wassily Kandinsky, Paul Cézanne oder Schriftsteller wie Franz Kafka, Ernest Hemingway und Jean-Paul Sartre – sie alle wiesen erhöhte Werte auf. In manchen Fällen hatte das ernsthafte Konsequenzen, bei anderen nicht. Van Gogh etwa wurde mehrmals in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, schnitt sich im Wahn ein Ohr ab und versuchte sich umzubringen. Cézanne und Kandinsky konnten hingegen die meiste Zeit gut mit ihrer Veranlagung leben. Warum psychische Krankheiten manchmal ausbrechen, während andere Betroffene ihre düsteren Gedanken in Schaffenskraft umwandeln, hängt auch von deren Disziplin ab.
US-Autor Mason Curry hat in seinem Blog „Daily Routines“ den Arbeitsalltag von Superkreativen untersucht. Entgegen des Klischees vom verlotterten Künstler, der erst mittags aufsteht, ergibt sich Kreativität demnach meist aus harter Arbeit. Wenn der japanische Schriftsteller Haruki Murakami an einem neuen Roman schreibt, steht er jeden Morgen um vier Uhr auf, arbeitet fünf bis sechs Stunden am Stück, dann treibt er Sport und geht spätestens um zehn Uhr abends ins Bett. Auch der britische Autor Charles Dickens stand um sieben Uhr auf, frühstückte um acht, um neun saß er am Schreibtisch. Dort blieb er bis zwei Uhr am Nachmittag sitzen – ohne Ausnahme.
Der Wissenschaftsautor Bas Kast kommt in seinem aktuellen Buch, in dem er das Geheimnis der Kreativität erforscht, zu dem Schluss, dass Routine die Entstehung von originellen Ideen begünstige. Wer jeden Tag immer gleich plane, befreie seinen Kopf von lästigen Entscheidungen.
Ebenfalls wichtig: Auszeiten. Autor Dickens unternahm jeden Tag einen langen Spaziergang. Eine Vorliebe, die er mit den Komponisten Beethoven und Tschaikowski teilte. Was sich wie ein netter Ausflug anhört, ist in Wahrheit nichts anderes als die Fortsetzung der Arbeit. Denn kurz nachdem die Herren ihren Schreibtisch verlassen haben, sind ihre Gedanken noch wach und konzentriert. Doch durch die Ablenkung an der frischen Luft bewegen sich die Gedanken freier umher. Dadurch kombinieren sie Sätze und Noten anders und ebnen so den Weg zu originellen Ideen. Diese Erkenntnisse können, da sind sich die Forscher sicher, sogar Normal-Kreativen helfen – zumindest wenn sie denn Spaziergänge mögen und zur Gattung der Frühaufsteher gehören.