Zwischen Genie und Wahnsinn Die dunkle Seite der Kreativität

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Kreativität ist auch Sache der Gene

Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist es für knapp 23 Millionen Menschen besonders wichtig, kreativ zu sein. Kein Wunder, gehören doch mittlerweile für jeden Versicherungsangestellten Kreativtechniken wie Brainstorming und das Erstellen von Mindmaps dazu. Ob es hilft? Fraglich.

Denn auch die Gene sind nicht unschuldig daran, ob jemand außergewöhnlich kreativ ist oder nicht. Im Juni 2015 erschien im Fachblatt „Nature Neuroscience“ ein Beitrag einer Gruppe isländischer Wissenschaftler. Das Forscherteam um Kari Stefansson verglich medizinische Daten von insgesamt 86 000 Isländern mit rund 1000 Mitgliedern aus Schauspiel-, Tänzer-, Schriftsteller- und Musikerverbänden. Da-bei schauten sie sich vor allem die Erbgutabschnitte an, die bei Patienten mit Psychosen häufiger vorkommen als bei gesunden Menschen.

Was die Kreativität fördert

Das Ergebnis: Stefansson und sein Team konnten herausfinden, dass Psychosen und Neurosen weitaus häufiger bei Künstlern, Schriftstellern und anderen Berufskreativen auftreten als in der Durchschnittsbevölkerung. Bis zu 17 Prozent höher liegt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Merkmale bei ihnen vorkommen. Danach untersuchten die Wissenschaftler weitere Datensätze aus Schweden und den Niederlanden nach Auffälligkeiten, insgesamt noch einmal 35.000 Menschen. Und siehe da: Beim zweiten Versuch lag das Risiko der entsprechenden Genvariante bei den Kreativen sogar um 25 Prozent höher.

Für die Autoren war das Ergebnis nicht sonderlich überraschend. Um kreativ zu sein, so deren Begründung, müsse man eben anders denken als die Masse. Besonders kreative Gehirne funktionieren offener, assoziativer. Die Betroffenen sind dadurch neugieriger und können die Welt stets mit einem frischen Blick betrachten. Doch der Grat zwischen anders und krank ist schmal. So herrscht im Gehirn der Ideenspinner mehr Chaos als anderswo. Meist ist das produktiv, manchmal aber auch zerstörerisch. Viele Superkreative zahlen für ihre Begabung, was der amerikanische Psychiater Arnold Ludwig den „Preis der Größe“ nennt.


Kreativität ergibt sich aus harter Arbeit

Wie hoch der ausfallen kann, zeigte schon eine Studie vor 20 Jahren. Wissenschaftler untersuchten darin 291 Biografien bekannter Künstler und Musiker auf Anzeichen von Persönlichkeitsstörungen, Depressionen oder Angststörungen. Ob Maler wie Vincent van Gogh, Wassily Kandinsky, Paul Cézanne oder Schriftsteller wie Franz Kafka, Ernest Hemingway und Jean-Paul Sartre – sie alle wiesen erhöhte Werte auf. In manchen Fällen hatte das ernsthafte Konsequenzen, bei anderen nicht. Van Gogh etwa wurde mehrmals in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, schnitt sich im Wahn ein Ohr ab und versuchte sich umzubringen. Cézanne und Kandinsky konnten hingegen die meiste Zeit gut mit ihrer Veranlagung leben. Warum psychische Krankheiten manchmal ausbrechen, während andere Betroffene ihre düsteren Gedanken in Schaffenskraft umwandeln, hängt auch von deren Disziplin ab.

US-Autor Mason Curry hat in seinem Blog „Daily Routines“ den Arbeitsalltag von Superkreativen untersucht. Entgegen des Klischees vom verlotterten Künstler, der erst mittags aufsteht, ergibt sich Kreativität demnach meist aus harter Arbeit. Wenn der japanische Schriftsteller Haruki Murakami an einem neuen Roman schreibt, steht er jeden Morgen um vier Uhr auf, arbeitet fünf bis sechs Stunden am Stück, dann treibt er Sport und geht spätestens um zehn Uhr abends ins Bett. Auch der britische Autor Charles Dickens stand um sieben Uhr auf, frühstückte um acht, um neun saß er am Schreibtisch. Dort blieb er bis zwei Uhr am Nachmittag sitzen – ohne Ausnahme.

Der Wissenschaftsautor Bas Kast kommt in seinem aktuellen Buch, in dem er das Geheimnis der Kreativität erforscht, zu dem Schluss, dass Routine die Entstehung von originellen Ideen begünstige. Wer jeden Tag immer gleich plane, befreie seinen Kopf von lästigen Entscheidungen.

Ebenfalls wichtig: Auszeiten. Autor Dickens unternahm jeden Tag einen langen Spaziergang. Eine Vorliebe, die er mit den Komponisten Beethoven und Tschaikowski teilte. Was sich wie ein netter Ausflug anhört, ist in Wahrheit nichts anderes als die Fortsetzung der Arbeit. Denn kurz nachdem die Herren ihren Schreibtisch verlassen haben, sind ihre Gedanken noch wach und konzentriert. Doch durch die Ablenkung an der frischen Luft bewegen sich die Gedanken freier umher. Dadurch kombinieren sie Sätze und Noten anders und ebnen so den Weg zu originellen Ideen. Diese Erkenntnisse können, da sind sich die Forscher sicher, sogar Normal-Kreativen helfen – zumindest wenn sie denn Spaziergänge mögen und zur Gattung der Frühaufsteher gehören.

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