Bevor das Gespräch beginnt, will Heinz-Walter Große noch schnell die Vorstandsetage des Medizintechnikkonzerns B. Braun in Melsungen zeigen.
Digitalisierung und ihre Folgen, findet Große, sieht man nämlich nicht zwangsläufig nur am Computer. „So, wie wir hier arbeiten“, sagt Große und zeigt in ein Rund aus Glas und Holz und vor allem ohne Wände, das sei doch auch eine Folge der Digitalisierung. Die offenen Arbeitsräume meint er damit, die Tatsache, dass auch er und seine Vorstandskollegen sich Schreibtische im offenen Bereich suchen müssen.
Carsten Hentrich und Michael Pachmajer, die in ihrem neuen Buch die Verschlossenheit des Mittelstands gegenüber der Digitalisierung beklagen, nicken anerkennend. Zum Gespräch geht es dann hinter verschlossene Türen. Nicht, weil es etwas zu verstecken gäbe. „Sondern weil es die anderen vom Arbeiten abhält, wenn laut gesprochen wird.“
Zur Person
... ist Autor des Buches d.quarks. Der PwC-Berater lehrt Digitale Transformation an der Goethe Universität Frankfurt a. M..
... ist Autor von d.quarks. Der PwC-Berater ist spezialisiert auf Mittelstand und lehrt an der Goethe Universität Frankfurt a. M.
... ist Vorstandschef von B. Braun. Das Familienunternehmen setzt mit 55.000 Mitarbeitern sechs Milliarden Euro um.
WirtschaftsWoche: Herr Große, Manager überbieten sich gerade darin, Krawatten abzunehmen, Sneaker anzuziehen oder ihre Mitarbeiter zu duzen. Bei Ihnen sieht man nichts von dem – nehmen Sie die Digitalisierung nicht ernst?
Heinz-Walter Große: Persönlich halte ich die Krawatte für das Unnötigste, was erfunden wurde. Aber man sollte sie auch nicht so wichtig nehmen, dass man von ihr auf die Bereitschaft zum Wandel rückschließen könnte.
Die beiden Herren sagen, der Mittelstand habe noch nicht erkannt, wie die Digitalisierung die Unternehmenskultur verändert.
Große: Manchmal erinnert mich die ganze Diskussion an einen Hype. Es vermischen sich da leider die unterschiedlichsten Themen. Nehmen Sie unser Logistikzentrum: Wir hatten früher dezentrale Lager in allen angrenzenden europäischen Ländern, heute nur noch eins. Diese Entwicklung ist doch nur durch digitale Prozesse möglich. Das wird häufig gar nicht als Digitalisierung wahrgenommen. Systematisieren wir das Thema endlich mal – so wie es die Herren ihrem Buch getan haben.
Ist das eine typische Argumentation im Mittelstand, Herr Pachmajer?
Michael Pachmajer: Absolut. Wir sehen im Mittelstand mehrere Reaktionen auf die Digitalisierung. Rund 50 Prozent der Familienunternehmen wollen ihr Geschäftsmodell transformieren, wissen aber nicht, wie. Ihnen fehlt ein Modell, wie sie das Thema anfangen können – ein Modell, das wir in unserem Buch mit den d.quarks beschreiben, elementaren Fähigkeiten für die Gestaltung des digitalen Wandels. Die anderen 50 Prozent teilen sich unserer Erfahrung nach auf etwa 30 Prozent, die abwarten und denken: Lasst die anderen mal vorneweg laufen. Etwa 20 Prozent haben sich bereits auf den Weg gemacht – dazu zähle ich auch B. Braun.
So haben sich Unternehmen auf die Digitalisierung vorbereitet
Mehr als in Drittel aller Unternehmen bereitete sich durch digitales Management der Personalverwaltung vor. In der Studie waren Mehrfachnennungen möglich
Quelle: Edenred-Ipsos-Barometer 2015, "Wohlbefinden & Motivation der Arbeitnehmer"
An zweiter Stelle steht die Virtualisierung der Arbeitsplätze (28 Prozent), etwa durch virtuelle Desktops oder eine Ausstattung für Telefonkonferenzen.
Den dritten Platz teilen sich zwei Maßnahmen: die Einrichtung eines sozialen Firmennetzwerks sowie das Angebot von E-Learning (jeweils 25 Prozent).
18 Prozent der Unternehmen trafen Vereinbarungen zur Telearbeit
16 Prozent der befragten Unternehmen haben an ihrer Webseite gearbeitet.
13 Prozent der Unternehmen haben sonstige Maßnahmen ergriffen
Fünf Prozent der Unternehmen haben eine "BYOD" (bring your own device) Politik eigeführt.
Ein Drittel der befragten unternehmen gab an, keine der aufgeführten Maßnahmen zur Vorbereitung auf die Digitalisierung umgesetzt zu haben
Wie entscheidend ist ein überzeugter Chef für einen solchen Wandel?
Große: Natürlich hängt der digitale Wandel zu großen Teilen vom CEO ab. Bei uns im Unternehmen sind es aber an vielen Stellen auch die Abteilungsverantwortlichen, die diese Entwicklung vorantreiben. In unserer Logistik gibt es einen digitalen Prozess, der nachmittags die Aufträge abgleicht und dann hochrechnet, wann die Mitarbeiter diese abgearbeitet haben. Wenn diese dann sehen, Schluss ist um 21.30 Uhr, aber um 21 Uhr steht noch Fußball an, dann wissen sie, dass man mit einer extra Anstrengung noch fast das ganze Spiel sehen kann. Da muss man keine Vorgaben machen, sondern da kommt die Motivation von den Mitarbeitern selbst. Wichtig ist, dass vor allem das Management eine Kultur im Unternehmen schafft, die Veränderungen zulässt.
Wieso sollte sich überhaupt etwas ändern?
Der Mittelstand läuft doch prächtig. Wieso sollte sich überhaupt etwas ändern?
Carsten Hentrich: Was heute passiert, passiert sehr schnell. Wir haben kürzlich mit einem Baumaschinenhersteller gesprochen. Der sagte: In fünf Jahren werden seine Umsätze aus dem Verkauf einbrechen. Seine Kunden werden Maschinen nicht mehr kaufen, sondern über Plattformen leihen. Er steigt nun in das Geschäft ein. Wenn man sich aber nur momentan den Markt anschaut und nicht die Weitsicht hat, dass der aktuelle Erfolg endlich ist, kann das schnell das Geschäft zerstören.
Das heißt aber auch: Nur das beste Produkt zu haben reicht womöglich nicht mehr. Ein Angriff auf viele Weltmarktführer.
Hentrich: Der beste Ingenieur ist nicht genug. Innovation in einer digitalen Welt ist immer multidisziplinär.
Große: Wir haben unsere laparoskopischen Kamerasysteme gerade von einer 2-D- auf eine 3-D-Optik weiterentwickelt. Ein Riesenfortschritt, wenn der Arzt das Operationsfeld dreidimensional sieht. Das entwickelt Ihnen kein Yuppie mit einer Idee für ein neues Uber, für diese Art von Innovationen brauchen Sie weiterhin Ingenieure. Dann aber kommt in der Tat die Frage Wie vermarkte ich das und wie kann ich einzelne Produkte und Dienstleistungen verbinden, um einen Mehrwert für Patienten und Anwender zu schaffen?
Hentrich: Wir schauen oft auf das Produkt, wenn wir uns mit Innovation beschäftigen. Die großen Plattform- und Internetkonzerne denken viel freier: Die schauen, wo ihre Kompetenzen Wertschöpfung schaffen können, egal, in welcher Industrie. Google wird wahrscheinlich nie selbst hochwertige Medizintechnik herstellen können wie Sie, Herr Große. Aber Google kann vielleicht aus medizinischen Daten Services für Ihre Therapiefelder entwickeln. Da vermisse ich die richtige Einstellung bei vielen Mittelständlern. Digitalisierung bedeutet oft, das eigene Geschäftsmodell infrage zu stellen.
Große: Das ist aber kein Dilemma des Mittelstands allein. Denken Sie mal das Geschäftsmodell von Uber und die Entwicklung zum autonomen Fahren weiter: Dann ist in 15 Jahren unsere Autoindustrie in der heutigen Form nicht mehr denkbar. Heute Morgen haben ein paar Tonnen Auto meine 75 Kilo hier nach Melsungen gebracht. Jetzt stehen diese Tonnen zehn Stunden auf einem Platz, und heute Abend fahren die mich wieder 22 Minuten nach Hause. Irre, oder? Die Frage ist nur, wie schnell sich etwas Neueres durchsetzt.
Wo droht Ihrem Geschäft denn ein Uber, Herr Große?
Große: Ich glaube, dass wir in sensiblen Märkten unterwegs sind. Das Versuch-und-Irrtum-Prinzip der Start-up-Szene funktioniert hier nur teilweise. Sie können kein neues Produkt zur Anwendung am Patienten bringen, wenn Sie nicht 100 Prozent von dessen Qualität überzeugt sind – das Risiko ist einfach zu groß. Ein zentrales Thema für uns ist aber die Frage der Vernetzung und Datennutzung. Da müssen wir die Entwicklung als Chance begreifen und nicht aus Datenschutzbedenken vieles verhindern.
Pachmajer: Die Frage an Sie ist: Wo entsteht künftig Wertschöpfung, für die Ihre Kunden bereit sind, zu bezahlen? Bieten Sie weiterhin nur OP-Instrumente an oder versorgen Sie die Patienten stationär und ambulant mit allen medizinischen und therapeutischen Leistungen, die ihnen ein besseres Leben mit der Krankheit ermöglichen? Das definieren Sie am besten für sich, indem Sie die Kundenperspektive einnehmen.
Große: Henry Ford hat mal gesagt: Wenn ich meine Kunden gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie sich schnellere Pferde gewünscht. Sie brauchen sicherlich eine Einbeziehung des Kunden, aber auch die eigene Idee.
Pionier oder Fast Follower?
Das sagen erst mal alle. Wie sieht das konkret aus, wenn Sie den Kunden einbeziehen?
Große: Wenn Sie zum Anwender sagen „Kauf mir dieses Operationsinstrument ab“, dann geht dieser zum Einkäufer, der sagt, dass er es woanders günstiger bekommt – und kauft dort. Also sagen wir: Lasst uns doch mal schauen, welche Instrumente ihr nutzt, welche sollten ausgetauscht werden, welche sind überflüssig? Wir haben gerade gestern mit einem Kunden so eine Analyse besprochen. Da erkennt die Krankenhausleitung: Wir müssen offenbar handeln. Und am Ende machen Sie mit diesem Ansatz auch entsprechenden Umsatz.
Hentrich: Und plötzlich kommt die Argumentation über den Nutzen. Die Frage ist dann, ob man diesen Wandel als Pionier nachvollzieht oder sich eher als Fast Follower versteht. Im Mittelstand haben viele die Position und die Stärke, Pionier zu sein.
Pachmajer: Es kann ja nicht sein, dass wir die besten Produkte herstellen, die Monetarisierung aber im Silicon Valley stattfindet.
Große: Im Silicon Valley ist aber auch sehr viel Luft kapitalisiert. Ich glaube, wir sollten uns nicht zu schlecht reden. Wir haben natürlich kein Beispiel für Uber oder Facebook in Deutschland. Dass aber deshalb die gesamte Old Economy in Gefahr ist, würde ich nicht unterschreiben.
Wie gehen Sie mit den Mitarbeitern um, die sagen: Das jetzige Geschäft läuft doch. Ich ändere nichts.
Große: Vor einigen Jahren haben wir im Management entschieden, die traditionelle Finanzplanung für das folgende Geschäftsjahr abzuschaffen. Das war allerdings nur möglich, weil wir am zweiten Arbeitstag nach Monatsende die gesamte B.-Braun-Welt konsolidiert haben können. In einigen Positionen wird hier auch mit Schätzungen gearbeitet, aber mit einer unglaublichen Genauigkeit. Es gab nach der Abschaffung eine ganze Reihe von Finanzdirektoren, die um ihren Einfluss und den Wert ihrer bisherigen Arbeit fürchteten. Es geht aber immer wieder darum, für Veränderungen und schlankere Prozesse offen zu sein.
Hentrich: Schauen Sie sich mal Steve Jobs an, den verstorbenen Apple-Gründer. Worin war er stark? Vor allem darin, eine Unternehmenskultur zu schaffen, in der sich Kompetenzen vernetzen. Wir müssen Führungskräfte kultivieren, die die Fähigkeiten des Vernetzens für sich entdecken und das systematisieren. Wir haben am Anfang über die Krawattenfrage gescherzt. Aber das sind bloß Symbole, dass man sich von statischen und formal autoritären Hierarchien löst.
Große: Wir haben heute noch Organigramme wie vor 40 Jahren. Das ist der Tod vieler Dinge, die wir hier diskutieren. Sie sind schon so schwarz umrandet, wie Traueranzeigen. Diese Umrandungen zeigen genau in einer Box: Was ist deine Verantwortung? Da ist nicht die Frage: Was bringe ich ein? Sondern: Wie viele Mitarbeiter habe ich? Dieses Organigramm macht mich total verrückt, wir müssen in dieser Form davon weg.
Und wer entscheidet, wenn alle für alles zuständig sind?
Große: Sie brauchen dann Führungskräfte, die sich lösen können, auch von Symbolen wie Büros. Wir haben zum Beispiel vor 15 Jahren ein offenes Bürokonzept umgesetzt. Aber auch in der Kundenbeziehung sind Änderungen notwendig, zum Beispiel stellen wir uns nach außen nicht mehr in Sparten, sondern in 18 Therapiefeldern spartenübergreifend auf. Das ist sicherlich schwieriger, als nur die Krawatte abzunehmen, um Modernität zu leben.
Die beste Lösung für den Kunden liegt manchmal ja auch außerhalb des eigenen Unternehmens. Wie wichtig ist Kooperation?
Pachmajer: Ein Unternehmen kann in der digitalen Welt nicht alles selbst entwickeln. Deswegen braucht es schon eine Offenheit gegenüber anderen Akteuren.
Große: Unser Erfolg beruht zunächst darauf, dass wir 95 Prozent von dem, was wir verkaufen, selber herstellen. Aber wir machen natürlich nicht alles alleine, sondern arbeiten mit vielen externen Partnern.
Es heißt, Deutschland habe die erste Halbzeit der Digitalisierung verloren. Ihr Tipp für die zweite?
Pachmajer: Ich halte nichts von dem Bild. Das setzt voraus, dass das Spiel nur 90 Minuten geht, das glaube ich nicht. Digitalisierung ist kein vorübergehender Trend.
Große: Es geht nicht ums Gewinnen. Es geht darum, eine Kultur zu schaffen, die sagt: Nutzen wir die Chancen.