Abgang von der Börse Wie Aktionäre durch Delisting faktisch enteignet werden

Ein neues Urteil erleichtert Unternehmen den Rückzug von der Börse. Konzerne wie Marseille Kliniken oder Strabag wollen das nutzen. Während Großaktionäre profitieren, verlieren Anleger viel Geld.

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Investor Burkhard Götz fühlt sich verschaukelt. Im Oktober hätten die Marseille Kliniken noch die Mailadressen der Aktionäre eingesammelt – „angeblich, um den Dialog mit den Gesellschaftern zu verbessern“. Doch Anfang Juni hat Marseille-Chef Heinz-Dieter Wopen sie vor vollendete Tatsachen gestellt: Die Aktie soll von der Börse verschwinden. Einen Dialog mit Aktionären darüber gab es nicht – wohl aber massive Verluste. Der Kurs stürzte um rund 30 Prozent auf 2,30 Euro. Anleger hatten Papiere panisch auf den Markt geworfen, nachdem Marseille den Rückzug von der Börse (Delisting) angekündigt hatte. Dankbare und oft die einzigen Käufer sind in solchen Fällen die Großaktionäre, denen es egal sein kann, ob die Aktien jederzeit handelbar sind.

Götz ist es nicht egal. Er hat für die Beteiligungsgesellschaft Nabag AG 38.000 Euro in Marseille investiert. Die Menschen werden älter, Pflegeheime wie die von Marseille wichtiger. Die Aussicht, dachte er, sei glänzend, ein zweistelliger Kurs realistisch. Vorbei. „Vorstände und Aufsichtsräte, die so was machen, dürfen am Kapitalmarkt keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen“, sagt Götz.

Götz ist mit seiner Wut nicht allein: Auch Aktionäre von Schuler, Strabag AG, Biolitec, Swarco Traffic Holding oder n.runs erlitten Verluste, nachdem die Unternehmen angekündigt hatten, ihre Aktie von der Börse zu nehmen. Gekniffen sind auch Fondssparer. Nach der Ankündigung haben Investoren zwar noch bis zu sechs Monate Zeit, an der Börse zu verkaufen, nur gibt es kaum Nachfrage. Ein Delisting, sagt Torsten Graf, Fondsmanager bei Mainfirst, müsse er bei Aktien „als zusätzliches Risiko einkalkulieren, weil die Liquidität beim Handel austrocknet“. Thomas Hechtfischer, Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, sagt: „Ohne Börsennotiz ist die Aktie nur noch halb so viel wert, nach der Ankündigung ist der Kurs nicht abgefedert.“

Erleichtert hat den Rückzug von der Börse der Bundesgerichtshof (BGH). Er beschloss im Oktober, dass Unternehmen ihre Aktie per Vorstandsbeschluss von der Börse nehmen können und Aktionäre auch keine Abfindung mehr bekommen müssen. Bisher musste die Hauptversammlung dem Delisting zustimmen, und es gab einen finanziellen Ausgleich. Abgeschafft.

Insider rechnen nun mit weiteren Unternehmen, die sich von der Börse zurückziehen. Die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer etwa berät aktuell bei zwei Transaktionen, bei denen Midcaps, mittelständische Firmen, planen, die Notiz aufzugeben, um eine Übernahme zu ermöglichen. Freshfields-Partner Christoph Seibt spricht von einer „erstaunlich hohen Anzahl“ von Rückzugsfällen in den letzten Monaten. Das sei ein „besonderer Trend“. Ein Alarmsignal ist es schon, wenn ein Unternehmen von einem höher in ein weniger reguliertes Segment wechselt (Freiverkehr). „Im Freiverkehr gilt das Übernahmegesetz nicht mehr“, sagt Seibt. Dort aber ist die Mindestabfindung für Aktionäre festgeschrieben.

Den Weg für das BGH-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht geebnet, als es 2012 entschied, dass die Börsennotierung nicht vom Eigentumsschutz des Grundgesetzes erfasst sei. Übersetzt: Ein Aktionär hat keinen Anspruch darauf, dass seine Aktie an der Börse gehandelt wird. Wesentlich für das Eigentum an der Aktie seien vielmehr die Beteiligung am Unternehmen sowie die Mitwirkung in der Hauptversammlung – beides bleibe ja bestehen.

Kehrtwende der Richter

Die BGH-Richter nahmen die Entscheidung zum Anlass, ihre bisherige Rechtsprechung zu revidieren: Noch 2002 hatte der BGH im Fall Macrotron festgelegt, dass die Hauptversammlung dem Delisting zustimmen muss und Aktionäre ein Angebot auf Abfindung bekommen.

Nun haben die Richter die faktische Enteignung von Anlegern ermöglicht. Wie selbstverständlich heißt es im BGH-Beschluss gar, dass sich nicht feststellen lasse, dass „schon die Ankündigung des Börsenrückzugs regelmäßig zu einem Kursverlust“ führe. Kursverluste gab es früher in der Tat selten – Anleger konnten ja auf eine Entschädigung bauen. Seit dem BGH-Urteil können sie das nicht mehr. Und seither purzeln nach der Delisting-Ankündigung die Kurse.

Aus diesen Börsengängen ist nichts geworden
Die im Mai oder Juni erwartete Wiederaufnahme von Börsengängen in China dürfte sich einem Zeitungsbericht zufolge noch bis Juli verzögern. Die Behörden machten sich Sorgen über den Zustand der Wirtschaft und würden deshalb erst im dritten Quartal wieder IPOs zulassen, hieß es in dem amtlichen "China Securities Journal". Die Börsenaufsicht hatte die Genehmigung von Börsengängen im Oktober eingestellt, um das Angebot zu drosseln, den Aktienmarkt zu stabilisieren und die Qualität der IPOs zu verbessern. Viele Branchenkenner hatten erwartet, dass die Behörde im Mai oder Juni eine Wiederaufnahme ankündigen wird. Im vergangenen Jahr bot sich an den westlichen Märkten ein ganz ähnliches Bild - wenn auch nicht ausschließlich krisenbedingt. Quelle: dpa
Das Logo der Rheinmetall AG Quelle: dpa
Die Zentrale des Versicherungskonzerns Talanx Quelle: dpa/dpaweb
Luxury clocks and watches are displayed inside a Graff Diamonds store at Peninsula Hotel in Hong Kong Quelle: REUTERS
Spanish Formula One driver Fernando Alonso of Ferrari steers his car Quelle: dpa
workers fixing a huge advertising banner of German company Evonik Quelle: REUTERS
Energiesparlampen werden am 26.08.2009 bei Osram in Augsburg (Schwaben) in Verkaufsverpackungen abgepackt. Quelle: dpa

Anleger bleiben nach dem Delisting zwar Anteilseigner. Viele aber dürfen die Aktien nicht mehr besitzen. „Jeder regulierte Investmentfonds muss beim Delisting aussteigen, weil er im Wesentlichen nur übertragbare Wertpapiere halten darf“, sagt Stefan Degen, Aktien-Chef bei Bayern Invest. So kam die Andritz-Gruppe, Großaktionär des Delisting-Falls Schuler, an weitere Aktien. Es seien einige kleinere Positionen erworben worden, die von Fonds angeboten worden seien, bestätigt Andritz.

Als der BGH das Delisting vereinfachte, dachten Investoren, dass kleine Unternehmen mit geringem Streubesitz und niedrigem Börsenumsatz von der Börse flüchten würden. Aufgerüttelt hat viele nun der Fall Magix: Der Multimedia-Softwarehersteller ist profitabel, 31 Prozent der Aktien sind breit gestreut. Doch Magix begründet den Rückzug nun ausgerechnet damit, dass die Finanzsituation mit 18 Millionen Euro netto in der Kasse so komfortabel sei, dass Eigenkapital vom Aktienmarkt nicht benötigt werde. „Uns geht es gut, wir brauchen euch nicht mehr“ – das scheint die unterschwellige Botschaft an Aktionäre. In der Spitze hatte die Aktie bis zu 30 Prozent verloren.

Kein Kapital für Kleine?

Investoren überlegen nun, ob sie noch in Aktien kleiner Unternehmen investieren können. Fondsmanager Graf sorgt sich, dass Nebenwerte mit einem dominierenden Großaktionär „einen Bewertungsabschlag bekommen, weil das Delisting-Schwert über ihnen schwebt“. Und Götz, der Mann mit den Marseille-Aktien, macht sich „Gedanken, ob einzelne Marktsegmente noch investitionsfähig sind“. Er will sich Manager anschauen: Haben Vorstände schon mal ein Delisting gemacht? „Das muss ich bei einem Investment nun in meine Überlegung einbeziehen“, sagt er.

Einige Aktionäre wollen vorsorgen und versuchen nun, die Börsennotiz in der Satzung des Unternehmens festschreiben zu lassen. Das Thema steht etwa auf der Tagesordnung der Hauptversammlung des Bauunternehmens Strabag. Die Beteiligungsgesellschaft Scherzer & Co. will Gleiches bei GK Software durchsetzen – weil Aktionären durch ein Delisting meist „erheblicher Schaden entstanden“ sei. Die Notiz solle nur dann beendet werden können, wenn ein Abfindungsangebot gemacht werde. Bringen dürften solche Initiativen wenig: Die Strabag AG gehört zu knapp 94 Prozent der österreichischen Strabag SE, GK Software liegt mehrheitlich in den Händen der Gründer.

Auf Hilfe der Börsen können Aktionäre nicht bauen. Die geben zwar Bedingungen vor, zu denen Unternehmen delisten dürfen. Doch die wichtigsten, Frankfurt und Stuttgart, verlangen nur, dass Anlegern noch sechs Monate Zeit bleibt, ehe Aktien aus einem öffentlich-rechtlich regulierten Segment verschwinden. „Die Börse kann und darf keine Einbahnstraße sein, wir können keine Emittenten aufnehmen und sie dann nicht wieder in einem planbaren und geordneten Verfahren entlassen“, sagt Cord Gebhardt, Geschäftsführer der Frankfurter Börse. Die Börse Stuttgart will nur sicherstellen, dass Anleger Papiere bis zum Delisting „zu einem marktgerechten Börsenpreis verkaufen“ können. Und marktgerecht ist dann halt ein niedrigerer Preis.

Börsenmechanismen außer Kraft gesetzt

Einzig die Börse Düsseldorf hält dagegen. Das BGH-Urteil gehe in die „falsche Richtung“, sagt Vorstand Thomas Dierkes. „Nach der Delisting-Ankündigung mag allenfalls der Großaktionär noch Stücke billig kaufen.“ Düsseldorf sei die einzige Börse, an der „Hauptversammlungsbeschluss und Kaufangebot bei einem Totaldelisting obligatorisch“ seien. Rechtlich ist das möglich, für Börsenregeln gilt das BGH-Urteil nicht: „Der weiter gehende Anlegerschutz in einer Börsenordnung ist immer möglich“, sagt Kapitalmarktrechtler Herbert Harrer, Partner bei Linklaters.

Allein: In Düsseldorf bleiben Hintertürchen. Erstens gilt Dierkes anlegerfreundliche Börsenordnung nicht im Freiverkehr. Und zweitens entlässt Dierkes Unternehmen, wenn sie an einer anderen Börse im regulierten Segment notiert bleiben. Dann muss der Vorstand nur versprechen, die Notiz mindestens ein Jahr beizubehalten. Mehr als eine Ehrenerklärung, räumt er ein, sei das nicht. „Wenn das Unternehmen die Einjahresfrist nicht einhält, haben wir keine Möglichkeit, es zu sanktionieren.“

Strabag-Aktionär Dieter Dürer (Name geändert) ist enttäuscht: Im Oktober hat Thomas Birtel, Chef der österreichischen Strabag SE, verkündet, dass es bei einem Streubesitz von damals 6,7 Prozent „Ziel“ sei, die deutsche Tochter Strabag AG von der Börse zu nehmen. „Anleger dachten an Squeeze-out“, sagt Dürer. Dabei werden die letzten Aktionäre zwangsweise aus der Aktie gedrängt – bekommen aber eine Abfindung. Mit dem Delisting rechnete keiner. „Ich kann meine Aktien quasi nur noch dem Großaktionär andienen und der mir den Preis diktieren. Das untergräbt die Aktienkultur.“

Abfindung wird unattraktiv

Das BGH-Urteil hat Mechanismen außer Kraft gesetzt, die an der Börse jahrzehntelang galten. So müssen sich Anleger wohl daran gewöhnen, dass sie von findigen Aufkäufern, wenn diese den Vorstand hinter sich haben, bei Übernahmen übers Ohr gehauen werden. Bislang mussten Aufkäufer Aktionären bei einem Übernahmeangebot oder wenn sie einen lukrativen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag abschließen wollten, mindestens den durchschnittlichen Börsenkurs der letzten drei Monate bieten. Nach einem Delisting aber gibt es keinen Kurs mehr. Der Preis muss dann per Wertgutachten ermittelt werden – und das gibt der Aufkäufer in Auftrag, der an einem möglichst niedrigen Preis interessiert ist. „Ein Delisting macht die Spekulation auf eine Abfindung unattraktiver“, folgert Christian Kames, Chef der M&A-Abteilung bei der Citigroup Deutschland, die bei Übernahmen berät.

Wer sich als Anleger zu billig abgespeist fühlt, kann die Abfindung vor Gericht überprüfen lassen. Doch diese sogenannten Spruchverfahren sind teuer und dauern Jahre. Markus Neumann, Vizechef der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger, hat da Erfahrung: „Ist ein Unternehmen nicht mehr notiert, gibt es nur noch den Geschäftsbericht nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches HGB – und da muss vieles nicht mehr bilanziert werden. Mit den spärlichen Informationen können Aktionäre schwer den Wert bemessen.“

Anlegern sind die Hände gebunden

Unterschwellig drohen Aufkäufer schon mit dem neuen Recht. Die Hörmann Funkwerk Holding etwa bietet Aktionären der Funkwerk AG 2,55 Euro pro Aktie. Hörmann hält keine 58 Prozent, setzt Aktionären aber die Pistole auf die Brust: In einer Mitteilung heißt es, man verfolge „unabhängig von der Annahmequote das Ziel, dass sich die Funkwerk AG von der Börse zurückzieht“. Zwar können nur Vorstand und Aufsichtsrat ein Delisting beschließen – nicht der Großaktionär. Der aber kann Mitglieder im Aufsichtsrat installieren, die in seinem Sinne agieren; er kann Aufsichtsrat und Vorstand durch Aktienoptionen und großzügige Vergütungen gefügig stimmen – oder mit deren Absetzung drohen. Alles schon mal da gewesen.

Anlegern sind die Hände gebunden: Die Entscheidung über das Delisting ist ein Verwaltungsakt. Daher sei „nach derzeit herrschender Rechtsansicht nur der Emittent widerspruchs- und klagebefugt, nicht der einzelne Aktionär“, sagt Gebhardt von der Frankfurter Börse. Und auch Anwalt Seibt resümiert: „Der Rechtsschutz für Anleger gegen ein Delisting ist sehr unsicher.“

Privatanleger, die nicht rechtzeitig verkauft haben, müssen nicht immer beim Großaktionär anklopfen: Über die Ettlinger Valora Effekten können nicht börsennotierte Aktien gehandelt werden. Das ist allerdings teuer, Valora nimmt bei delisteten Aktien fünf Prozent Provision. „Wir werden delistete Aktien auch ohne Zustimmung des Unternehmens handeln“, versichert Joachim Haas von Valora.

Internationale Investoren schütteln den Kopf: „Strengere gesetzliche Regeln wären wünschenswert, um Minderheitsaktionäre zu schützen. Deutschland scheint mir im Nachteil gegenüber Großbritannien. Dort wurden die Delisting-Regeln verschärft“, sagt Christian von Engelbrechten, Manager des Fidelity Germany Aktienfonds.

Noch ist Hoffnung: Der Arbeitskreis für Börsen- und Wertpapierfragen will das Thema im Oktober besprechen. Dann treffen sich die Börsenaufseher der Länder und Vertreter von Finanz-, Wirtschafts- und Justizministerium. „Wir diskutieren, ob der Schutz der Anleger im Rahmen eines Delistings gewahrt bleibt und ob eine gesetzliche Lösung notwendig werden könnte“, sagt die Arbeitskreis-Vorsitzende Ilse Ricken von der Börsenaufsicht NRW.

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel will Anleger, etwa über eine Tech-Börse „Markt 2.0“, dazu bewegen, Geld in junge Unternehmen zu packen. Droht Investoren aber ein Delisting – womöglich in dem Moment, in dem ihr Unternehmen richtig läuft –, werden sie sich hüten, Aktien zu kaufen.

Ein klarer Fall für den Gesetzgeber.

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