Für Anleger problematisch ist hingegen, dass längst nicht alle Aktien auch analysiert werden. Voraussetzung für die Coverage durch Analysten ist vor allem, dass ein Papier stark gehandelt wird. Das führt allerdings dazu, dass liquide Titel – also zum Beispiel Dax-Aktien mit hohem Anteil handelbarer Aktien – besonders häufig von Analysten beurteilt werden, exotische oder kleine Aktien hingegen kaum. „Viele der im regulierten Markt gelisteten Aktien haben große Schwierigkeiten, eine Beurteilung durch Analysten zu erhalten“, räumt Frank ein. „Der Dax hingegen ist völlig überversorgt mit Analysteneinschätzungen.“ Dementsprechend bedeutend sind auch die durchschnittlichen Schätzungen der Analysten für die Erwartungen der Investorenmehrheit. Und damit steigt auch die Gefahr, dass Unternehmen versuchen, diese Erwartungen zu erfüllen. Dann sind Analysen auch zu einem guten Teil letztlich sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Ob das im Sinne des Unternehmens und seiner Aktionäre ist, steht auf einem anderen Blatt.
Gerade das Beispiel Commerzbank zeigt, wie schwierig, wenn nicht sogar unmöglich es für Analysten ist, die Entwicklung eines Aktienkurses korrekt zu prognostizieren. Die nach Ausbruch der Finanzkrise teilverstaatlichte Großbank ist seit Jahren ein Sanierungsfall, ihre Bilanzsumme hat sich nahezu halbiert. Als Dax-Wert spielt die Aktie der Commerzbank bei vielen Investoren dennoch eine große Rolle. Oft befand sie sich gefährlich nahe am Abgrund, der Kurs fiel bis Juli vergangenen Jahres bis auf knapp sechs Euro – von fast 50 Euro fünf Jahre zuvor und mehr als 220 Euro vor Ausbruch der Finanzkrise. Noch immer steht die Commerzbank-Aktie bei der Mehrheit der Analysten auf „Verkaufen“.
"Aktienanalysten sind zu spät"
Dass sich das Papier von seinem Tiefpunkt vor einem halben Jahr gut verdoppeln konnte, haben nur die wenigsten Analysten vorhergesagt. Als der britische Ableger der US-Investmentbank JP Morgan am 10. Dezember sein Kursziel für die Commerzbank-Aktie von 8,87 auf 10,26 Euro anhob, stieg das Papier ebenfalls um mehr als vier Prozent an einem Tag – bis auf 11,19 Euro. Der Kurs schoss also am gleichen Tag noch über das Kursziel hinaus. Dabei gab JP Morgan gar keine Kaufempfehlung ab, sondern stufte sie mit „Neutral“ ein – was soviel wie „Halten“ bedeutet. JPMorgan-Analystin Sofie Peterzens hatte lediglich auf Besserungstendenzen in der Frachtschifffahrt hingewiesen, die gut für den Schiffsfinanzierer Commerzbank seien. Peterzens erhöhte daher ihre Prognosen für die Nettoerlöse aus diesem Kreditgeschäft für die Jahre 2013 bis 2015 im Schnitt um 13 Prozent. Sie rechnete vor, dass im Idealfall der Gewinn der Commerzbank um ein Drittel steigen könne. „Aktienanalysen sind selten treffsicher, da sie meistens prozyklisch sind und damit zu spät“, sagt Vermögensverwalter Bauer.
Die Beispiele belegen aber auch, dass Analysteneinschätzungen Kurse bewegen, egal ob die Prognosen eintreffen oder nicht. Anleger sollten sie daher auch nicht ignorieren. Informationen sind an der Börse ein hohes Gut. Und da alle Anleger und Analysten grundsätzlich Zugang zu den gleichen Informationen haben, spiegelt die Konsensus-Schätzung der Analysten auch so etwas wie die Markterwartung wieder.
Insgesamt liegen Analysten mit ihren Einschätzungen aber nur wenig besser als die übrigen Akteure an der Börse. Eine Untersuchung des Investment-Verwalters AHL MMS ergab etwa, dass Anleger, die den Empfehlungen von europäischen und amerikanischen Analysten vertrauten, nur um zwei Prozent besser abschnitten als der Markt. Die besten Analysten säßen demnach in Asien mit einer um vier Prozent überdurchschnittlichen Performance.
Anleger dürfen aber beim Lesen von Analystenschätzungen und –berichten vor allem eins nicht vergessen: An der Börse wird die Zukunft gehandelt – und die bleibt ungewiss.