Jüngstes Beispiel im Dax ist der Chemiker Lanxess, der just zum Zeitpunkt des Stabwechsels auf dem Posten des Vorstandschefs Ende Februar dieses Jahres den Goodwill abwertete und gleichzeitig die Dividende um die Hälfte strich. Grund war nach offizieller Lesart nicht die möglicherweise längst fällige Beseitigung von Altlasten, sondern angeblich „Veränderungen im Wettbewerbsumfeld“. So oder so tickerten die Nachrichtenagenturen „Schock für Aktionäre“, nachdem der Lanxess-Kurs binnen Sekunden um sechs Prozent abgerutscht war.
Aktuell dürften sich Bilfinger-Aktionäre fragen, ob nach Vorstandswechsel und drei dramatischen Prognosekürzungen binnen weniger Monate die knapp 1,9 Milliarden Euro Goodwill in der Bilanz des Baudienstleisters noch zu rechtfertigen sind.
Notorischer Überoptimismus
Was vielen entgeht, das hat die europäische Wertpapierbehörde ESMA in einer umfangreichen Studie in den Bilanzen von 235 europäischen Konzernen aus 23 Ländern ermittelt: Eine Verschleierung von Zahlen sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel, heißt es da. Die Prüfer aus Paris ermittelten auch, dass nahezu alle Unternehmen von sehr optimistischen Wachstumsraten ihrer Töchter ausgingen. Grund: Wer die Zukunft rosarot malt, der muss heute auf den Goodwill nicht abwerten und bleibt in seiner Gewinnrechnung in den schwarzen Zahlen.
Einer neuen Analyse von Inge Wulf, Professorin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung, an der TU Clausthal, zufolge, finden Anleger in den Zahlenwerken der Unternehmen sogar häufig nicht einmal Zukunftserwartungen, die sie infrage stellen könnten. So fehlten im Krisenjahr 2008 bei gleich 8 der 30 Dax-Unternehmen quantitative Angaben zum Wachstum im Geschäftsbericht, darunter die Deutsche Telekom oder SAP. Drei Jahre später drückten sich im Dax BMW, Daimler und ThyssenKrupp vor solchen eigentlich zwingenden Angaben. Ein weiteres Ergebnis der Studie der TU Clausthal: Während der Finanzkrise haben die Dax-Unternehmen „vermutlich“ interne Zinssätze so angepasst, um bei den Milliarden an Goodwill „keine“ oder nur „eine geringere Wertminderung zu buchen, jedoch kann keine Plausibilitätsprüfung vorgenommen werden, da Detailangaben fehlen“, so Wulf.
Lebensdauer der Unternehmen falsch eingeschätzt
In einer seiner letzten großen Studien widmete sich auch der im Januar dieses Jahres verstorbene Karlheinz Küting dem Thema Goodwill. Der wohl bekannteste deutsche Bilanzexperte leitete lange Jahre das Centrum für Bilanzierung und Prüfung an der Universität des Saarlandes. Er untersuchte 134 deutsche börsennotierte Gesellschaften aus Dax, MDax, SDax und TecDax. Der Studie zufolge unterstellen die Unternehmen, dass sie aus den gezahlten Übernahmeprämien für neue Töchter 204 Jahre lang Nutzen ziehen werden. Je nach Statistik und Datenbasis liegt die Lebensdauer von Unternehmen aber heutzutage im Durchschnitt bei 12 bis maximal 20 Jahren; bei 204 Jahren jedenfalls hat sie nie gelegen. „Die Firmenchefs setzen offenbar beim Goodwill im Durchschnitt eine nahezu unbegrenzte Nutzungsdauer an“, sagt Thorsten Sellhorn, Inhaber des Lehrstuhls für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, „sonst wäre ein Mehr an Abschreibungen zu beobachten.“ Dabei sehen die Bilanzregeln vor, dass der Zeitraum, über den ein Goodwill nutzbar ist, zwar unbestimmt, aber eben keinesfalls unbegrenzt ist. „Der einst eingebuchte Goodwill sollte also wieder bei null landen. Die Frage ist hierbei nicht, ob, sondern nur wann“, so Sellhorn.
Anleger tun gut daran, mögliche Abwertungen des Goodwill in Betracht zu ziehen. Denn die Zahl derer, die für die Rückkehr zur alten Regelung regelmäßiger Abschreibung plädieren, steigt seit Jahren.