Bilanzen unter der Lupe Wie Dax-Unternehmen ihre Bilanzen aufpumpen

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Verschleierung von Zahlen ist die Regel

Jüngstes Beispiel im Dax ist der Chemiker Lanxess, der just zum Zeitpunkt des Stabwechsels auf dem Posten des Vorstandschefs Ende Februar dieses Jahres den Goodwill abwertete und gleichzeitig die Dividende um die Hälfte strich. Grund war nach offizieller Lesart nicht die möglicherweise längst fällige Beseitigung von Altlasten, sondern angeblich „Veränderungen im Wettbewerbsumfeld“. So oder so tickerten die Nachrichtenagenturen „Schock für Aktionäre“, nachdem der Lanxess-Kurs binnen Sekunden um sechs Prozent abgerutscht war.

Aktuell dürften sich Bilfinger-Aktionäre fragen, ob nach Vorstandswechsel und drei dramatischen Prognosekürzungen binnen weniger Monate die knapp 1,9 Milliarden Euro Goodwill in der Bilanz des Baudienstleisters noch zu rechtfertigen sind.

Notorischer Überoptimismus

Was vielen entgeht, das hat die europäische Wertpapierbehörde ESMA in einer umfangreichen Studie in den Bilanzen von 235 europäischen Konzernen aus 23 Ländern ermittelt: Eine Verschleierung von Zahlen sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel, heißt es da. Die Prüfer aus Paris ermittelten auch, dass nahezu alle Unternehmen von sehr optimistischen Wachstumsraten ihrer Töchter ausgingen. Grund: Wer die Zukunft rosarot malt, der muss heute auf den Goodwill nicht abwerten und bleibt in seiner Gewinnrechnung in den schwarzen Zahlen.

Welche Aktien Investoren verschmähen
Rang 10: Fielmann (36,8 Prozent der Analysten raten zum Verkauf)Der Brillenhändler Fielmann wächst weiter: Nach einem Gewinnanstieg in den ersten sechs Monaten blickt das Unternehmen auch weiter zuversichtlich auf das Gesamtjahr. Ganz so begeistert zeigten sich die Analysten jedoch nicht: 36,8 Prozent aller Analysten, die die Aktie beobachten, raten zum Verkauf. Damit gehört die Fielmann-Aktie zu den zehn unbeliebtesten deutschen Aktien unter Analysten. Die Privatbank Hauck & Aufhäuser begründete ihre Verkaufsempfehlung damit, das die Erwartungen leicht verfehlt wurden. Außerdem verliere das Wachstum des Unternehmens an Schwung und der Jahresausblick sei nur vage ausgefallen.Marktkapitalisierung: 4,1 Milliarden EuroBeobachtende Analysten: 19Analysten, die zum Verkauf raten: 7Zur Auswertung: Berücksichtigt wurden nur deutsche Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von mindestens einer Milliarde Euro. Außerdem sollte die Aktie mindestens von zehn Analysten beobachtet werden. Quelle: dpa
Rang 9: MAN (39,1 Prozent)Die schwache Wirtschaftsentwicklung im einstigen Boomland Brasilien macht dem Lastwagen- und Maschinenbauer MAN schwer zu schaffen. Weil das Geschäft im größten Markt Lateinamerikas auch im vergangenen Quartal um 17 Prozent einbrach, schraubte MAN-Chef Georg Pachta-Reyhofen seine Umsatzerwartungen für den gesamten Konzern zurück.Auch die Analysten sind nicht besonders optimistisch für die MAN-Aktie: Fast 40 Prozent aller Analysten, die die Aktie beobachten, raten die Aktie zu verkaufen. Marktkapitalisierung: 13,2 Milliarden EuroBeobachtende Analysten: 23Analysten, die zum Verkauf raten: 9 Quelle: dpa
Rang 8: Puma (40,7 Prozent)Der Sportartikelhersteller hat es nicht leicht. Die Gewinne des Konzerns sind im zweiten Quartal trotz des Fußballfests in Brasilien um 76 Prozent eingebrochen, der Sportausrüster machte lediglich einen Überschuss von 4,2 Millionen Euro. Auch der operative Gewinn (Ebit) knickte deutlich ein: Dort musste Puma ein Minus von 60 Prozent verbuchen. Die Aktie ist dementsprechend ein Trauerspiel. 40,7 Prozent aller Analysten, die die Aktie beobachten, raten diese zu verkaufen.Ein Grund, warum Analyst William Hutchings von Goldman Sachs rät die Aktie zu verkaufen: Der Gewinn je Aktie werde noch geringer ausfallen als erwartet – außerdem sei die Onlinestrategie des Konzerns nicht überzeugend.Marktkapitalisierung: 2,9 Milliarden EuroBeobachtende Analysten: 28Analysten, die zum Verkauf raten: 11 Quelle: dpa
Rang 7: Südzucker (42,1 Prozent)In rund drei Jahren, im Herbst 2017, brechen für die Branche in Europa neue Zeiten an, da die EU-Zuckermarktordnung endet und die bisher preisstützenden Angebotsregulierungen wegbrechen. Der deutsche Zuckerhersteller Südzucker dürfte damit noch vor großen Umbrüchen stehen. Die Aktie ist kein Augenschmaus: 2013 stieg sie in ungeahnte Höhen, um danach wieder abzustürzen. Goldman Sachs begründet seine Verkaufsempfehlung unter anderem mit stärkerem Gegenwind im zweiten Geschäftshalbjahr. Insgesamt raten 42 Prozent der beobachtenden Analysten zum Verkauf der Aktie.Marktkapitalisierung: 2,7 Milliarden EuroBeobachtende Analysten: 19Analysten, die zum Verkauf raten: 8 Quelle: dpa
Rang 6: RWE (47,2 Prozent)RWE machen (wie anderen Stromversorgern) die gefallenen Strom-Großhandelspreise zu schaffen. Diese purzeln wegen der Überkapazitäten in Europa und der zunehmenden Konkurrenz durch den staatlich geförderten Ökostrom. RWE klagt zudem als einziger Versorger gegen das Atommoratorium. RWE musste im vergangenen Geschäftsjahr Milliardenabschreibungen auf seine Kraftwerke vornehmen.Der deutsche Strommarkt werde noch für längere Zeit schwierig bleiben, schreibt Analystin Tanja Markloff von der Commerzbank in ihrer Studie. Daher habe sie ihre Ergebnis- und Dividendenschätzungen für 2014 bis 2017 gesenkt. Da im aktuellen Kursniveau bereits viele Hoffnungen eingepreist seien, ergebe sich Spielraum für Enttäuschungen.Marktkapitalisierung: 17,8 Milliarden EuroBeobachtende Analysten: 36Analysten, die zum Verkauf raten: 17 Quelle: REUTERS
Rang 5: Elringklinger (50 Prozent)Die Aktie des Autozulieferers ElringKlinger ist seit Jahren auf Erfolgskurs und hat sich innerhalb der vergangenen fünf Jahre mehr als verdoppelt. Zuletzt geriet die Aktie jedoch unter Druck. Der Autozulieferer habe im zweiten Quartal zwar die Erwartungen erfüllt, schrieb Analyst Tim Schuldt. Allerdings konnte trotz starkem Umsatzwachstum nur ein geringer Gewinnanstieg erreicht werden. Die Hälfte aller beobachtenden Analysten rät die Aktie zu verkaufen.Marktkapitalisierung: 1,6 Milliarden EuroBeobachtende Analysten: 22Analysten, die zum Verkauf raten: 11 Quelle: dpa
Rang 4: Wacker Chemie (54,2 Prozent)Der Spezialchemiekonzern Wacker kämpft sich Stück für Stück aus der Solarkrise. Im abgelaufenen Quartal konnte der auf Silizium- und Silikonprodukte spezialisierte Konzern seinen Überschuss binnen Jahresfrist auf 29,4 Millionen Euro annähernd verdoppeln. Wacker verdiente zudem mehr als Analysten im Schnitt erwartet hatten. Trotzdem rät mehr als die Hälfte aller beobachtenden Analysten zum Verkauf der Aktie.So begründet Andrew Benson von der Citigroup seine Verkaufsempfehlung mit der Sommerflaute, die ihn bezüglich des zweiten Halbjahres skeptisch stimme.Marktkapitalisierung: 4,7 Milliarden EuroBeobachtende Analysten: 24Analysten, die zum Verkauf raten: 13 Quelle: dpa

Einer neuen Analyse von Inge Wulf, Professorin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung, an der TU Clausthal, zufolge, finden Anleger in den Zahlenwerken der Unternehmen sogar häufig nicht einmal Zukunftserwartungen, die sie infrage stellen könnten. So fehlten im Krisenjahr 2008 bei gleich 8 der 30 Dax-Unternehmen quantitative Angaben zum Wachstum im Geschäftsbericht, darunter die Deutsche Telekom oder SAP. Drei Jahre später drückten sich im Dax BMW, Daimler und ThyssenKrupp vor solchen eigentlich zwingenden Angaben. Ein weiteres Ergebnis der Studie der TU Clausthal: Während der Finanzkrise haben die Dax-Unternehmen „vermutlich“ interne Zinssätze so angepasst, um bei den Milliarden an Goodwill „keine“ oder nur „eine geringere Wertminderung zu buchen, jedoch kann keine Plausibilitätsprüfung vorgenommen werden, da Detailangaben fehlen“, so Wulf.

Lebensdauer der Unternehmen falsch eingeschätzt

In einer seiner letzten großen Studien widmete sich auch der im Januar dieses Jahres verstorbene Karlheinz Küting dem Thema Goodwill. Der wohl bekannteste deutsche Bilanzexperte leitete lange Jahre das Centrum für Bilanzierung und Prüfung an der Universität des Saarlandes. Er untersuchte 134 deutsche börsennotierte Gesellschaften aus Dax, MDax, SDax und TecDax. Der Studie zufolge unterstellen die Unternehmen, dass sie aus den gezahlten Übernahmeprämien für neue Töchter 204 Jahre lang Nutzen ziehen werden. Je nach Statistik und Datenbasis liegt die Lebensdauer von Unternehmen aber heutzutage im Durchschnitt bei 12 bis maximal 20 Jahren; bei 204 Jahren jedenfalls hat sie nie gelegen. „Die Firmenchefs setzen offenbar beim Goodwill im Durchschnitt eine nahezu unbegrenzte Nutzungsdauer an“, sagt Thorsten Sellhorn, Inhaber des Lehrstuhls für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, „sonst wäre ein Mehr an Abschreibungen zu beobachten.“ Dabei sehen die Bilanzregeln vor, dass der Zeitraum, über den ein Goodwill nutzbar ist, zwar unbestimmt, aber eben keinesfalls unbegrenzt ist. „Der einst eingebuchte Goodwill sollte also wieder bei null landen. Die Frage ist hierbei nicht, ob, sondern nur wann“, so Sellhorn.

Anleger tun gut daran, mögliche Abwertungen des Goodwill in Betracht zu ziehen. Denn die Zahl derer, die für die Rückkehr zur alten Regelung regelmäßiger Abschreibung plädieren, steigt seit Jahren.

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