WirtschaftsWoche: Herr Lück, die Wirtschaft in Europa kommt kaum in Gang, obwohl die Europäische Zentralbank längst aus allen Rohren feuert. Stecken wir in einer Investitionsfalle, in der Unternehmen trotz niedriger Zinsen nicht mehr investieren?
Martin Lück: Ich würde sagen, wir stecken in einer Bilanzrezession. Viele Unternehmen in Europa sind hoch verschuldet und sehen derzeit keine Möglichkeiten, Geld sinnvoll zu investieren. Deswegen nehmen sie trotz niedriger Zinsen keine neuen Schulden auf und stecken, wenn sie es doch mal tun, das Geld statt in echte Investitionen lieber in Aktienrückkäufe. Auf Dauer ist das nicht der wahre Jakob, sie müssen investieren. Das werden sie aber erst dann wieder tun, wenn sie sehen, dass auch die Preise steigen. Im Moment können die Unternehmen nur mehr Umsatz erzielen, indem sie die Menge erhöhen. Die Preiskomponente muss dringend zurückkehren, damit das wirtschaftliche Schwungrad wieder in Fahrt kommt.
Sicher nicht, in diesem Punkt ist die EZB wohl übers Ziel hinaus geschossen. Mit den anderen Maßnahmen, also etwa der Ausweitung des Anleihekaufprogramms oder dem Senken des Leitzinses auf null, hätte sie vielleicht auch noch warten können. Aber die Grundsatzentscheidung, eine drohende Deflation zu bekämpfen, halte ich für absolut richtig.
Zur Person
Martin Lück ist Chefanlagestratege des US-Vermögensverwalter Blackrock für Deutschland, Österreich und Osteuropa. Zuvor war er in ähnlicher Position bei der Schweizer Bank UBS tätig. Lück ist promovierter Volkswirt.
Ein anderes Ziel der EZB-Geldpolitik war, den Euro zu schwächen. Das scheint lange funktioniert zu haben. Jüngst hat der Dollar aber gegenüber dem Euro verloren. Wie erklären Sie das?
Schon im Frühjahr 2014 haben die Märkte begonnen, die auseinander laufenden Geldpolitiken in den USA und Europa einzupreisen. Es hat über ein Jahr gedauert, in dem der Euro von 1,40 Dollar auf 1,05 Dollar gefallen ist. Seither pendelt der Euro im engen Band zwischen 1,05 und 1,15 Dollar. Ich denke, dass damit der Unterschied bei der Geldpolitik verdaut ist. Das sieht man auch daran, dass der Wechselkurs sich bei der Leitzins-Erhöhung der Fed im Dezember und auch der Senkung der EZB im März nicht mehr signifikant bewegt hat. Trotzdem erwarten viele in diesem Jahr noch die Parität zwischen Euro und Dollar. Ich halte das für unwahrscheinlich und sehe den Wechselkurs stabil oder gar Richtung 1,20 Dollar je Euro gehen.
Wird die amerikanische Zentralbank weitere Zinsschritte folgen lassen?
Die jüngsten Arbeitsmarktdaten waren stark, die Kerninflation liegt bei 2,2 Prozent, also sogar oberhalb des Fed-Ziels. Von dieser Warte aus hat die Fed hier alle Karten in der Hand, die Zinsen weiter zu erhöhen. Jedenfalls, wenn man auf die USA schaut. Sollte es natürlich weltwirtschaftliche Verwerfungen geben, kann sich das ändern. Aber im Moment rechne ich mit weiteren Zinsschritten nach oben.
Eine robuste Wirtschaft, ein leicht schwächerer US-Dollar: Ihre Erwartungen sprechen eigentlich für ein Investment in amerikanische Aktien. Ende vergangenen Jahres haben Sie noch europäische zum Kauf empfohlen. Wie passt das zusammen?
Inzwischen haben wir unsere Einschätzung überarbeitet und sind aus oben genannten Gründen zwischen amerikanischen und europäischen Aktien neutral.
Wer in Europa investiert, hat viele politische Risiken am Hals: In Ungarn und Polen sind Rechtspopulisten an der Macht, in Frankreich stehen sie kurz davor und in England droht die Abspaltung von der EU. Welche wirtschaftlichen Folgen hat das?
Der europäische Gedanke wird im Moment merklich geschwächt. Das sind nicht nur, aber auch für die Wirtschaft gar keine guten Nachrichten. Werden im Zuge dieser Entwicklung Handelsschranken wieder aufgebaut, schadet das der gesamten europäischen Wirtschaft, auch der deutschen. Europa könnte statt der Renationalisierung mit Strukturreformen auf die Krise reagieren und gestärkt daraus hervorgehen. Allerdings mache ich mir da im Moment wenig Hoffnung, zumal ein Brexit mit jedem Tag wahrscheinlicher wird.