Börse Istanbul Türkische Aktien kaufen, wenn Erdoğan poltert

Gute Nachrichten liefert die Türkei kaum noch. Dennoch haben sich die Aktienkurse am Bosporus stabilisiert - und einiges spricht dafür, dass sie noch viel Potenzial haben. Über Chancen und Risiken an der Börse Istanbul.

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Börse Istanbul: Ein Blick auf türkische Aktien lohnt sich, trotz Zeiten politischer Unruhe. Quelle: Bloomberg

Die Türkei kommt derzeit nicht aus den negativen Schlagzeilen heraus. Gerade erst hat die Ratingagentur Moody’s die Türkei auf Ramsch herabgestuft. Für ein Land, das auf den Zustrom von ausländischem Kapital angewiesen ist, eine bittere Nachricht. Präsident Recep Erdoğan reagierte darauf wie gewohnt: Er polterte. Die Herabstufung sei ein Fehler, dahinter stecke eine politische Absicht. Ein Investment in die Türkei scheint daher ähnlich sinnvoll wie ein Hauskauf in einem Erdbebengebiet. Und doch – es lohnt sich gerade in diesen Zeiten, einen nüchternen Blick auf das Schwellenland zu werfen.

Denn angesichts der desolaten außen- wie innenpolitischen Lage erweist sich die türkische Wirtschaft als erstaunlich robust und widerstandsfähig: Knapp 2,7 Prozent Wachstum werden dieses Jahr erwartet – trotz eines verlorenen Jahres für die Tourismusbranche. Auch die Börse von Istanbul ist recht stabil geblieben. Seit zwei Jahren pendelt der türkische Leitindex in einem Korridor zwischen 70.000 und 90.000 Punkten. Weder der Bürgerkrieg in Syrien, der Kurdenkonflikt im eigenen Land noch der Putschversuch vom Juli konnten daran etwas ändern. Kaufen, wenn die Kanonen donnern also?

Türkische Aktien sind historisch günstig

Aussichtsreiche Fonds an der Börse Istanbul

Zumindest sei jetzt ein guter Zeitpunkt, mit türkischen Aktien zu handeln, sagt Michael Harris von der Fondsgesellschaft Renaissance Capital, denn „sie sind historisch günstig“. Weil viele Investoren aufgrund der bestehenden politischen Unsicherheiten Positionen in der Türkei verkauft haben, sieht auch Matthew Vaight von M&G Investments Chancen. Der Fondsmanager des M&G Global Emerging Markets Fonds hat seine Position in der Türkei in den vergangenen drei Monaten von zuvor 1,0 auf 2,5 Prozent erhöht. „Derzeit ist die Türkei so gepreist, als würden alle negativen Befürchtungen eintreffen und sich die Lage in der Türkei maximal schlecht entwickeln. Wenn es allerdings politisch und wirtschaftlich nicht so schlecht läuft wie erwartet, bietet das Land viel Potenzial“, so Vaight.

Gut für die Börse zudem: Das Land befindet sich seit Monaten in einer Art Wahlkampfmodus. Erdoğan will die parlamentarische Demokratie in ein Präsidialsystem umbauen, das ihm noch mehr Befugnisse einräumt. Das mag aus demokratietheoretischer Sicht bedenklich sein, kann aber für den Wirtschaftsstandort Türkei positive Auswirkungen haben.

Erdoğan selbst ist das größte Risiko für die Börse

Doch zweifellos gibt es auch eine Menge Risiken, zu denen in erster Linie die Person Erdoğan selbst zählt. Dessen AK-Partei startete 2002 vor allem auch als wirtschaftsliberale Partei. In den ersten Regierungsjahren setzte die Partei ein Reformprogramm des Internationalen Währungsfonds um, öffnete Sektoren für den Wettbewerb, stabilisierte den Haushalt und die Inflation. In der Folge floss viel ausländisches Kapital in das Land, das wiederum in die Verbesserung der Infrastruktur investiert wurde. Ein positiver Kreislauf, der das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in manchen Jahren annähernd um zehn Prozent zulegen ließ und die Popularität der AKP stabilisierte. Nur spätestens seit den legendären Protesten um den Gezi-Park in Istanbul 2013 geht es Erdoğan offenbar nur noch um den eigenen Machterhalt.

Der Ausnahmezustand wirkt sich auf die Wirtschaft aus

Ein Prozess, der sich nach dem gescheiterten Putsch in diesem Sommer nochmals beschleunigt. Reformen stagnieren schon, und es könnte schlimmer kommen: Bisher hatte die AKP immer einen wirtschaftsliberalen Flügel, aktuell um den Kurden und ehemaligen Merrill-Lynch-Mann Mehmet Şimşek. Dessen Einfluss aber schränkte Erdoğan bei seinem letzten Kabinettsumbau ein. Der Präsident fällt zudem eher durch wirtschaftlichen Dilettantismus auf. Von der unabhängigen Zentralbank fordert er, die Zinsen zu senken – obwohl angesichts der Inflation höhere Zinsen angebracht wären.

Und nicht nur rund 30.000 Menschen wurden seit dem Putschversuch verhaftet. Gerade erst wurde der Ausnahmezustand verlängert. Auch auf das Wirtschaftsleben hat die Jagd Auswirkungen. Über ein Dutzend Unternehmen wurden beschlagnahmt, darunter die Boydak-Holding, immerhin ein Fortune-500-Unternehmen. Die beschlagnahmten Unternehmen werden nun von einer Art Treuhand verwaltet. Auch wenn die direkten Folgen auf die türkische Wirtschaft gering sind, schaffen sie doch eine Atmosphäre des Misstrauens. Das wiederum schädigt das Geschäftsklima.

Die Gewalt eskaliert

Sollte Erdoğan weiter in das Wirtschaftsleben hineinfunken, wird er damit das für das Land so wichtige ausländische Kapital verschrecken. Viele Investmentfonds sind deswegen zunächst abwartend und momentan nicht in türkischen Aktien investiert: „Die im November und Dezember anstehenden Zinsentscheidungen der US-Notenbank Fed hängen wie ein Damoklesschwert über den Schwellenländern“, sagt Antonio Biondo von der BB-Wertpapier-Verwaltungsgesellschaft (BBWV) in Augsburg. Steigen die Zinsen in den USA, fließt das Kapital aus den Schwellenländern ab in sicherere Häfen. Mindestens ebenso große Probleme dürfte das Land bekommen, wenn Öl wieder anzieht – Preise oberhalb von 50 US-Dollar pro Barrel dürften die Inflation anheizen.

Scharfe Töne aus Deutschland
Elmar BrokDer CDU-Europapolitiker Elmar Brok hält die Forderungen der Türkei zur Einführung der Visumfreiheit für legitim. „Die Türkei hat bislang ihren Teil im Flüchtlingsdeal erfüllt. Jetzt mahnt sie an, dass die EU auch ihren Teil erfüllt. Das ist legitim“, sagte Brok der Online-Zeitung „Huffington Post“. Fakt sei aber auch, dass die EU keine Visumfreiheit geben könne, wenn die Türkei gegen Grundrechte verstoße. „Wir sollten die übrigen zwei Monate nutzen, mit der Türkei in Ruhe zu verhandeln“, sagte Brok. Ohne das Abkommen mit Ankara kämen wieder Millionen Flüchtlinge nach Europa. Quelle: dpa
Frank-Walter SteinmeierBundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier will mit der Türkei über Visumfreiheit erst sprechen, wenn die Regierung alle Auflagen dafür erfülle. „Es gibt Bedingungen für die Visafreiheit, und diese sind allen Seiten bekannt“, sagte der SPD-Politiker der „Rheinische Post“ (Dienstagsausgabe). Die Türkei habe sich verpflichtet, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um diese Bedingungen zu erfüllen. „Das ist momentan allerdings noch nicht der Fall und die Türkei hat da noch Arbeit vor sich.“ Quelle: AP
Katrin Göring-EckardtDie Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat sich für ein Aussetzen der EU-Beitrittsgespräche mit Ankara ausgesprochen. „Solange die Türkei sich im Ausnahmezustand befindet, kann es definitiv keine weiteren Beitrittsverhandlungen geben“, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Freitag). „Auch das EU-Türkei-Abkommen steht zur Disposition“, sagte sie mit Blick auf den Flüchtlingspakt. Die Bundesregierung dürfe nicht „kurzfristige Interessen in der Flüchtlingsfrage über das Wohl von 80 Millionen“ Türken stellen, sagte Göring-Eckardt. Kanzlerin Angela Merkel müsse das direkte Gespräch mit Präsident Recep Tayyip Erdogan sowie der Opposition suchen und Ankara deutlich machen, dass der Rechtsstaat umgehend wieder hergestellt werden müsse. Quelle: dpa
Sevim DagdelenDie Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen forderte erneut Sanktionen gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Wir brauchen wegen seiner brutalen Verfolgungspolitik mit Folter und Massenverhaftungen in der Türkei endlich Sanktionen gegen Erdogan. Seine Konten müssen gesperrt werden“, sagte sie der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Quelle: dpa
Sigmar GabrielDas harsche Vorgehen der türkischen Regierung gegen ihre Gegner nach dem Putschversuch reißt immer tiefere Gräben zu Europa auf. In einer gereizten Atmosphäre stellte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Montag den Flüchtlingspakt zwischen der EU und seinem Land infrage und forderte ultimativ die versprochene Visumfreiheit für Türken. Die Antwort kam prompt: „In keinem Fall darf sich Deutschland oder Europa erpressen lassen“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Ähnlich äußerte sich auch CDU-Vize Thomas Strobl. „So haben Staaten nicht miteinander umzugehen“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Dienstagsausgabe). Quelle: dpa
Mevlut CavusogluDie türkische Regierung hat Befürchtungen in der EU genährt, dass sie den Flüchtlingspakt mit der Union aufkündigen und damit eine neue Zuwanderungswelle nach Europa auslösen könnte. Außenminister Mevlut Cavusoglu setzte der Europäischen Union am Sonntag ein Ultimatum zur Aufhebung der Visumspflicht. Das Flüchtlingsabkommen funktioniere, weil sein Land "sehr ernsthafte Maßnahmen" ergriffen habe, etwa gegen Menschenschmuggler, sagte Cavusoglu der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Montagausgabe) nach einer Vorabmitteilung. "Aber all das ist abhängig von der Aufhebung der Visumpflicht für unsere Bürger, die ebenfalls Gegenstand der Vereinbarung vom 18. März ist", sagte er. Quelle: AP

Zudem ist ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien nicht in Sicht. Die türkische Armee operiert nun auch in Syrien und im Nordirak. Erdoğan war bis vor einem Jahr auf einem guten Weg, den Kurdenkonflikt beizulegen. Jetzt aber eskalieren beide Seiten die Gewalt. Das Verhältnis zu Russland hat sich mittlerweile wieder entspannt, nachdem Erdoğan Putin für den Abschuss des Kampfflugzeugs im November um Entschuldigung gebeten hatte. Die Beziehungen zur EU und zu den USA aber haben seit dem niedergeschlagenen Putsch am 15. Juli stark gelitten. Das hat Auswirkungen auf den Tourismus und auf Investitionsentscheidungen europäischer Unternehmen.

Für Anleger heikel mit Chancen

All diese Faktoren machen die Türkei zu einem heiklen Investitionsstandort. Aber: Chancen entstehen dann, wenn sich die Situation positiver entwickelt als gemeinhin erwartet. Etwa wenn der Reformprozess der AKP wieder an Fahrt aufnimmt, was durchaus möglich ist. Denn Erdoğan verdankt seine Popularität vor allem dem Wirtschaftswachstum der Nullerjahre. Auch als Autokrat kann er es sich nicht leisten, seine Anhängerschaft zu verschrecken.

Anlagen in der Türkei sind oft riskant und umständlich

Schon jetzt spricht, abgesehen von der politischen Unsicherheit, viel für türkische Aktien. „Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse für 2016 liegen bei knapp neun – das ist 20 Prozent unter dem Schnitt der letzten drei Jahre“, sagt Biondo von der BB-Wertpapier. Auch die Kurs-Buch-Werte sind mit 1,1 sehr günstig, was bedeutet, dass Anleger nur zehn Prozent Aufschlag auf das ihnen zustehende Vermögen an den Unternehmen zahlen. Zum Vergleich: Die Dax-Unternehmen kosten einen 70-prozentigen Aufschlag auf ihr Vermögen; das Kurs-Buch-Wertverhältnis liegt bei 1,7.

Die türkische Inflation liegt zwar mit acht Prozent weit über westeuropäischem Niveau, ist aber unter Kontrolle und fällt. Und gegen die außenpolitischen Krisen haben sich türkische Unternehmen erstaunlich robust erwiesen. Vertrauenerweckend ist die niedrige Staatsverschuldung von nur gut 30 Prozent des BIPs. Das könnte auch die Währung, die türkische Lira, stützen. Aktuell liegt die Lira sogar etwas höher als zu ihrem Tief im Sommer 2015. Sollte sich die Wirtschaft besser als erwartet entwickeln, stabilisiert sich der Lira-Kurs. Zu möglichen Aktienkursgewinnen kämen dann noch Währungserträge hinzu.

Schlüsselstaat Türkei

Allerdings ist es für Anleger riskant und oft umständlich, direkt in einzelne türkische Werte zu investieren. Selbst Profis wie Renaissance Capital oder der BBWV setzen deshalb auf Fonds, die breit streuen. Privatanleger können es ihnen nachtun, das Angebot dafür ist gut.

Wer trotzdem Direktanlagen wagen möchte, der kann von einer Besonderheit des türkischen Aktienmarkts profitieren. Die türkische Wirtschaft ist geprägt von mehreren Firmenkonglomeraten. Sowohl deren Beteiligungen als auch die Holdings selbst sind an der Börse notiert. Aufgrund ihrer breiten Streuung funktionieren Investitionen in diese Aktien wie ein kleiner Fonds.

Die Koç Holding alleine steht für rund zehn Prozent des türkischen BIPs. Insgesamt handelt es sich um 136 Unternehmen mit insgesamt 90.000 Angestellten – viele davon in der Auto-, Verteidigungs-, Schiffs- und Bauindustrie. Der Umsatz lag 2015 bei umgerechnet 28,9 Milliarden Euro.

Größter Konkurrent ist die Sabanci-Holding, wie Koç bereits 1926 gegründet. Sie umfasst 70 Firmen mit 65.000 Angestellten – elf Firmen davon sind an der Börse von Istanbul notiert. Eine dritte Gruppe ist die Doğan-Holding, in deren Besitz Zeitungen und Fernsehsender sind. Bei Doğan ist allerdings große Vorsicht angebracht: Die Mediengruppe ist regierungskritisch, als Erdoğan die Wahl im vergangenen November gewann, fiel beispielsweise deshalb der Kurs gleich um 16 Prozent.

Positiv begleiteten aber auch die Doğan-Medien eine Nachricht vom vergangenen Montag. Die Türkei und Russland hatten da nicht nur den Bau der Gaspipeline TurkStream unter dem Schwarzen Meer besiegelt, sondern auch eine Vereinbarung getroffen, dass Erdoğan vergünstigtes Erdgas beziehen kann. Das hilft den Unternehmen und vielleicht auch schon bald den Kursen an der Börse Istanbul.

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