Der renommierte bulgarische Politikwissenschaftlers Ivan Krastev, Vorsitzender des Center for Liberal Strategies in Sofia, redet gar schon von einem Machtkampf um das Erbe Putins im Kreml. Aufhorchen ließ im Juni der frühere Finanzminister Aleksei Kudrin. Auf dem International Economic Forum in St. Petersburg hatte sich Kudrin offen für vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgesprochen. Kudrin wirbt um ein Mandat für die dringend notwendigen ökonomischen Reformen und den Umbau der Wirtschaftsstruktur in Land.
Die sind notwendig. In den vergangenen 20 Jahren schrumpfte die Bevölkerung Russlands um sieben Millionen auf 142 Millionen Menschen. In den nächsten 40 Jahren wird die Einwohnerzahl 100 Millionen Menschen unterschreiten, so die Vereinten Nationen. Vor diesem Hintergrund lässt sich ökonomischer Niedergang nur durch hohe Zuwanderung oder einen substanziellen Anstieg der Produktivität verhindern. Ohne die Hilfe des Westens und massive Reformen ist Letzterer nicht zu bewältigen.
Die Aufhebung der Sanktionen wäre ein erster Schritt. Mit Putin aber wird das kaum gelingen, das Klima ist vergiftet, das Verhältnis mit der westlichen Führungsmannschaft zerrüttet. Der im Mai 2014 verkündete spektakuläre Gasdeal mit China dürfte sich nicht als Beginn eines neuen Zeitalters und damit als möglicher Erfolg Putins erweisen. Ursprünglich wurde der 400 Milliarden Dollar schwere und über 30 Jahre laufende Gasliefervertrag mit China als geopolitischer Triumph für Putin gewertet: Russland und China näherten sich an, Russland übernehme die Energieversorgung der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft.
Allmählich aber wird klar, dass der von Putin eingefädelte Deal den staatlich kontrollierten Gasriesen Gazprom gar ruinieren könnte. Auch wenn dieser gerade einen – vom billigen Rubel gepuschten – Gewinnzuwachs von 50 Prozent im ersten Halbjahr präsentierte. Während der Kreml die Kosten für den Pipelinebau in Richtung China noch auf 55 Milliarden Dollar schätzt, rechnet Gazprom inzwischen mit einer Investition von über 100 Milliarden. Um mit Gaslieferungen nach China Gewinn zu machen, benötigte Gazprom nach Berechnungen von Merrill Lynch einen Preis zwischen 340 und 380 Dollar pro 1000 Kubikmeter. Aktuell bekommt Gazprom aber nur etwa 200 Dollar.
Seit der Verhaftung Chodorkowskis 2003 hatte Putin den Einfluss von Staat und Bürokratie auf die Wirtschaft systematisch erhöht. Jetzt lockerte Putin die Daumenschrauben erstmals. Das zeigt sich am neuen unternehmens- und exportfreundlichen russischen Steuersystem.
Für den russischen Starökonomen Sergej Gurijew wären Privatisierungen ein Schlüsselmoment für Russland. Dass Putin eine Liberalisierung der russischen Wirtschaft vorantreibt, ist unwahrscheinlich. Die Reformer um Kudrin und dem früheren russischen Wirtschaftsminister Jewgeni Jasin würden dagegen ihre Chance nutzen.
Charttechnik hilft
Trotz niedriger Bewertung eilt ein Sprung an die Börse Moskau nicht. Allenfalls eine überschaubare Anfangsposition können Anleger eingehen, ein Einkauf könnte noch preiswerter werden. In unsicheren Zeiten bietet die Charttechnik Hilfe. Sollte der in Dollar berechnete RTS in den Bereich zwischen 650 und 500 Punkte abrutschen, bietet sich Anlegern eine gute Einstiegschance. Von diesem Niveau aus sollte mindestens eine kräftige Gegenbewegung einsetzen, begleitet von einer Erholung des Rubel, wie bis Mai dieses Jahres.
Sollte diese Unterstützungszone im Rahmen einer Trendbeschleunigung nach unten gerissen werden, dann bedeutete das eine vollständige Kapitulation der Investoren. Für antizyklische Anleger wäre das wohl eine historische Kaufgelegenheit, vergleichbar mit jener von 1998, gekoppelt mit einer Langfristwette auf marktwirtschaftliche Reformen.