Brexit-Angst an den Börsen „Anleger sollten einen Bogen um Bankaktien machen“

Nach dem Brexit-Schock herrscht Grabesruhe an den Finanzmärkten. Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank, erklärt, ob Anleger jetzt wieder einsteigen sollten – und welche Titel sie meiden sollten.

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Der Kapitalmarktexperte der Baader Bank erklärt die Auswirkungen des Brexit auf die Märkte. Quelle: dpa

Herr Halver, nach dem Brexit-Schock gab es zuletzt eine leichte Erholung an den Märkten. Ist jetzt die Zeit zum Einstieg in den Aktienmarkt gekommen?
Nach der ersten Schock-Reaktion lecken die Anleger ihre Wunden. Sie wagen einen zweiten Blick und dieser fällt weniger dramatisch aus. Grundsätzlich wird die Geldpolitik ein Überschwappen auf die Staatsanleihemärkte anderer EU-Länder und deren Banken verhindern. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Fed das Wort Zinserhöhung aus ihrem Duden entfernt hat. Niemand wird weiteres Öl in das lodernde Feuer der finanzwirtschaftlichen Unsicherheit gießen.

Tangiert die Unsicherheit über das weitere Brexit-Prozedere die Märkte?
Zunächst ist das erst einmal ein Zeitgewinn. Großbritannien wird nicht unmittelbar seinen Austrittsantrag stellen und damit müssen sich die Märkte zwischenzeitlich auch nicht mit den Konsequenzen eines Brexit auseinandersetzen. Anleger stellen sich ohnehin die Frage, wie lange es dauern wird, bis Großbritannien austritt und ob es überhaupt austritt. Und selbst, wenn es de jure austritt, ist es de facto vielleicht gar nicht ausgetreten.

Erklären Sie uns das bitte genauer.
Zwar tritt die „Rest-EU“ jetzt selbstbewusst auf, um den Briten die selbstgewählte „Apokalypse“ der wirtschaftlichen und politischen Isolation aufzuzeigen. Es werden harte Worte gewählt, die vor allem aber auch an EU-feindliche Parteien in anderen Ländern gerichtet sind. Sie sollen abgeschreckt werden, ähnliche Referenden zu starten. Und dennoch hat man keine Eile, die Briten schnell vom EU-Hof zu jagen.

Ist der Brexit derzeit nicht mehr als politische Stimmungsmache?
Was von Brüssel aus hart klingt, ist nicht so hart gemeint. Gras soll über die Brexit-Sache wachsen. In die EU soll wieder Ruhe einkehren. Nicht zuletzt legt insbesondere Deutschland viel Wert darauf, einen marktwirtschaftlichen und stabilitätsorientierten Waffenbruder in der EU gegen eine ansonsten stärker werdende, schuldenfinanzierte Wirtschaftspolitik mit Bezahlung durch die EZB zu haben. Natürlich bleibt ein hohes politisches Unsicherheitsrisiko. Grundsätzlich ist ein Damokles-Schwert vorhanden. Wenn schon der theoretische Grexit das politische Gefüge der EU und seine Finanzmärkte aus den Fugen bringen kann, was muss dann erst der tatsächliche Brexit anrichten?

Seit Anfang der Woche scheinen die Investoren geradezu besonnen zu agieren. Die Panik scheint verflogen.
Die Finanzmärkte zeigen starke Abwehrkräfte. An politische Krise scheinen sie sich gewöhnt zu haben. Die Volatilität bleibt allerdings hoch. Risikofreudige Anleger können durchaus wieder erste Schritte auf die Aktienmärkte wagen. Absicherungsstrategien mit zum Beispiel Teilschutzzertifikaten sind aktuell aber anzuraten.

Bei welchen Titeln sollten Anleger Vorsicht walten lassen?
Anleger sollten einen großen Bogen um die ohnehin angeschlagenen Banken- und Finanztitel machen. Das Schicksal des Londoner Finanzplatzes als Hauptsitz vieler Banken für ihr Europa-Geschäft ist unklar, so dass Analysten bereits die Gewinnerwartungen für große Investmenthäuser gesenkt haben. Die gestiegene Risikowahrnehmung gegenüber europäischen Banken kommt in einer seither sprunghaften Ausweitung des Risikoaufschlags fünfjähriger Euro-Bankanleihen mit A-Bonität zu deutschen Staatstiteln zum Ausdruck. Gleichzeitig werden europäische Banken an den Aktienmärkten im Vergleich zu den Leitindizes abgestraft.


„Ohne Zweifel haben wir eine nachhaltige europäische Polit-Krise“

Wo gibt es Chancen?
Potenzial bieten Titel aus dem MDax und SDax. Sie profitieren von der Digitalisierung der Weltwirtschaft, der sogenannten „Industriellen Revolution 4.0“. Dazu bedarf es vieler Schlüsseltechnologien, deren Selbstentwicklung beispielsweise in China jedoch zu lange dauern würde. Aber warum sich selbst bemühen, man kann das benötigte Know-How doch auch zukaufen. Diese Objekte der industriellen Begierde findet man im deutschen Mittelstand mit seinen zahlreichen Industriepatenten in zahlreichen Bereichen.

Wie sind die Aussichten für deutsche Aktien?
Ohne Zweifel haben wir eine nachhaltige europäische Polit-Krise. Politische Börsen haben diesmal keine kurzen Beine. Ihr Einfluss auf die Aktienmärkte wird anhalten, bis sich der Nebel der Unsicherheit im weiteren Umgang der EU mit Großbritannien gelichtet hat und bis klar ist, wie die „Rest-EU“ reagiert. Von der Unsicherheit auf den britischen Finanzmärkten kann aber nicht zuletzt der deutsche Aktienmarkt als erste Alternative profitieren. Er ist dann so etwas wie das stabilste Element in Europa.

Welche Branchen sind begehrt?
Die deutsche Industrie-Substanz könnte noch bedeutender werden. Investoren nutzen die niedrigen Einstiegspreise für günstige Zukäufe bei deutschen Qualitätsaktien aus dem Dax, MDax und SDax, die im Übrigen wesentlich weniger „Banken-lastig“ sind als die spanischen oder italienischen Leitindices Ibex, Ftse oder Mib. Verstärkte Finanzmittelzuflüsse etwa durch russische, arabische und asiatische Investoren werden sich auch im deutschen Immobiliensektor und seinen Immobilienaktien niederschlagen.

Wo sehen Sie den Dax in Zukunft?
Kurzfristig bleibt die Lage im Dax zwar volatil. Sollte sich die jüngste Korrektur fortsetzen, könnte diese bis zum bisherigen Jahrestief bei 8.699 Punkten laufen, während eine Erholung bei weiterer Beruhigung bis in den Bereich um die 9.750 Punkte vorstößt. Mittelfristig ist allerdings mit einer weiteren Beruhigung zu rechnen, so dass der Dax wieder klar über der Marke von 10.000 Punkten notiert. Bis zum Jahresende kann der Dax sogar die Marke von 10.800 Punkten erreichen.

Wie ist Ihre Prognose für den Euro und wie sollten Anleger die Verwerfungen am Devisenmarkt für sich nutzen?
Nach der ersten Euro-Abwertung durch den Brexit-Schock schauen die Devisenmärkte wieder mehr auf fundamentale Fakten. Die EZB enttäuschte bisher bei ihrem inoffiziellen Ziel der Abwertung der Gemeinschaftswährung zur exportseitigen Wettbewerbsverbesserung der Euro-Zone und hat daher ihr Anleiheaufkaufprogramm zur Effektverstärkung auch auf Unternehmensanleihen ausgeweitet.

Was sind die Folgen?
Dadurch verringerte sich die Attraktivität von Anleihen der Euro-Zone gegenüber Zinspapieren anderer Anlageregionen wie den USA weiter. Doch wollen die anderen exportstarken Ländern nicht tatenlos zusehen, wie sich ihre Währungen zum Nachteil ihres Außenhandels aufwerten. Auch sie setzen in einem Abwertungswettlauf auf Schwachwährungen. Und selbst die US-Notenbank hat die Vorteile des Exports erkannt. Sie hat kein Interesse, den Dollar über eine weitere Leitzinswende zu stärken.

Wo sehen Sie den Euro in naher Zukunft?
Da keiner wirklich gewinnt, wenn alle ihre Währung zu schwächen versuchen, ist eine mittelfristige Rückkehr der Gemeinschaftswährung zu ihrem Seitwärtstrend zum US-Dollar um 1,13 zu erwarten. Vor diesem Hintergrund sind große Währungsverwerfungen nicht zu erwarten, solange schwerste politische Nachfolgeerdbeben in der EU ausbleiben.

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