Anleger und Investoren wurden kalt erwischt. So richtig hat niemand damit gerechnet, dass die Briten tatsächlich mehrheitlich mit "leave" stimmen würden. Jetzt ist der Schlamassel da. Den Börsen steht eine längere Phase politischer Unsicherheit bevor. "Sollte es tatsächlich zu einem Brexit kommen, ergeben sich Kaufgelegenheiten", sagte mir gestern Abend ein prominenter Fondsmanager.
Direkt jetzt zu kaufen ist aber nur etwas für spekulative Naturen, die ihre Unternehmen sehr gut kennen. In anderen Schocksituationen wie etwa nach den Attentaten vom 11. September zahlte es sich aus, noch abzuwarten, bis die Börsen sich auf niedrigerem Niveau eingependelt hatten.
Erst einmal wird in einer Phase der Unsicherheit verkauft, zum Teil auch undifferenziert, ohne Blick auf Stärken und Schwächen einzelner Unternehmen. Warum zum Beispiel auch die Börse in Tokio stark gefallen ist, erschließt sich dem Beobachter auf den ersten Blick nicht, kann nur mit der weltweiten Unsicherheit und Angst um die Weltwirtschaft erklärt werden. Eine Interpretation der Wucht des Absturzes ist auch, dass immer mehr Geld automatisch investiert wird, von Indexfonds und Algorithmen.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Dass die Märkte in Europa zittern, Investoren Risiko aus den Depots nehmen und viele in den sicheren Hafen Gold flüchten, ist schon leichter nachvollziehbar. Der schmerzhafte ökonomische Trennungsprozess von Großbritannien, der die Europäische Union und die nationalen Regierungen über Jahre beschäftigen wird, ist noch das kleinere Übel. Mehr noch fürchten die Börsen weitere Turbulenzen in der Eurozone. Demnächst stehen Wahlen in Spanien an, die Euro-kritische Bewegung Podemos steht in den Meinungsumfragen gut da. In den Niederlanden regen sich die Euro-Kritiker, nächste Jahr wählt Frankreich mit einem wahrscheinlichen Triumph von Marine Le Pen.
Was sollen Anleger jetzt tun? Patentrezepte gibt es nicht, schon gar nicht in Zeiten, in denen sichere Anlagen sich real negativ verzinsen. Ich würde jetzt aber nicht verkaufen. Breit aufgestellte Depots, zu denen neben Aktien auch Unternehmensanleihen gehören - gerade im Dollarraum gibt es noch respektable Zinsen - und natürlich Gold, wurden heute noch am wenigsten hart getroffen. Das dürfte auch in den kommenden Jahren so sein.
Beim Brexit haben sich die Märkte sich zu wenig auf Meinungsumfragen und zu sehr auf die Wettquoten der Buchmacher verlassen. Die erwiesen sich nicht als verlässlich. Theoretisch hätten Investoren und Hedgefonds, die mit großem Geld auf einen Brexit und damit ein fallendes Britisches Pfund und fallende Aktienkurse gesetzt haben, die Quoten mit kleinerem Geld manipulieren können. Das Marktrisiko war asymmetrisch, warnte gestern noch die Schweizer Bank Sarasin. Die Chance, bei einem Verbleib der Briten im Euro noch etwas zu gewinnen, war viel niedriger als die Absturzgefahr beim Brexit. Genau das hat sich dann realisiert.
Ein großer Spekulationsgewinner steht fest: Milliardär George Soros, der lautstark vor einem Schwarzen Freitag gewarnt hatte und sich entsprechend positioniert haben dürfte. Es bleibt abzuwarten, ob er die ein, zwei Milliarden, die er mit wetten gegen Pfund und Aktien gewonnen hat, nun einsetzt, um seine Pro-Europa-Stiftungen aufzupolstern.
Eine Hoffnung haben die Börsen noch: Dass die Notenbanken eingreifen. Die EZB hat im Vorfeld gesagt, sie stehe bereit. Erste Investoren, etwa die Fondsgesellschaft Henderson, versuchen Anleger schon mit diesem Argument zu beruhigen. Was sie tun kann, außer die Ankaufprogramme für Wertpapiere noch mehr auszuweiten, bleibt aber schleierhaft. Die Auswahl an Anleihen, die die EZB noch kaufen kann, wird knapp. Aber vielleicht kauft Mario Draghi demnächst ja auch Aktien. Ausgeschlossen ist das nicht - die japanische Notenbank hat das auch schon getan.