Am 15. August veröffentlichte der Präsident der Federal Reserve Bank of San Francisco, John C. Williams, eine Analyse, die Sparer und Anleger aufhorchen lassen sollte: Es wäre zu überlegen, so Williams, der als einflussreicher Protegé von Fed-Chefin Janet L. Yellen gesehen wird, ob die Geldpolitik nicht fortan für eine höhere Inflation sorgen sollte. Eine Geldentwertung von zwei Prozent pro Jahr reicht den US-amerikanischen Zentralbankern ganz offensichtlich nicht mehr aus. Warum?
Der natürliche Zins ist gesunken
Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hätte, so argumentiert Williams und auch andere, ähnlich keynesianisch gesinnte Ökonomen, zu einem Rückgang des „natürlichen Zinses“ geführt – das heißt also zu einer Verringerung desjenigen Zinses, bei dem die Volkswirtschaft sich auf Vollbeschäftigung befindet, und bei dem es keine ungewollte Inflation gibt. Dies wiederum stelle die Geldpolitik nun vor ein ernstes Problem.
Die wichtigsten Fakten zur niedrigen Inflation
Autofahrer können sich ebenso freuen wie alle, die Haus oder Wohnung heizen müssen: Die Sprit- und Energiepreise liegen seit Monaten unter dem Vorjahresniveau. Auch der starke Euro trägt dazu bei, dass Tanken und Heizen günstiger wird: Die Euro-Stärke verbilligt die in Dollar abgerechneten Rohölimporte. Niedrige Inflation ist also in diesem Fall gut fürs Portemonnaie: Verbraucher bekommen mehr für ihr Geld. Allerdings liegt selbst die derzeit sehr niedrige Inflationsrate in Deutschland noch über den Zinsen, die aktuell auf den meisten Sparbüchern oder Tagesgeldkonten zu verdienen sind. Ersparnisse verlieren also unter dem Strich an Wert. Allerdings wären die Einbußen für Sparer noch größer, wenn die Inflation höher läge.
Das Problem ist, wie Verbraucher und Unternehmen die künftige Entwicklung des Preisniveaus einschätzen. Wer weiter sinkende Preise erwartet, verschiebt vielleicht den Kauf der neuen Waschmaschine oder die Investition in die neue Fabrikhalle - denn es kann ja eigentlich nur günstiger werden. Das könnte eine gefährliche Abwärtsspirale in Gang setzen: Unternehmen machen weniger Gewinn, Mitarbeiter werden entlassen. Diese können sich dann weniger leisten und der Druck, Preise weiter zu senken, nimmt zu. Diese Verkettung lähmt die Konjunktur. In der Folge sinken auch die Steuereinnahmen und die Belastungen durch Schulden und Sozialleistungen nehmen zu.
70 Prozent des Inflationsrückgangs im Euroraum, so hat es kürzlich EZB-Präsident Mario Draghi vorgerechnet, gehen auf das Konto gesunkener Energie- und Lebensmittelpreise. Dass das Preisniveau in Deutschland noch höher ist als in vielen anderen Eurostaaten liegt daran, dass in Ländern wie Griechenland, Spanien und Co. Unternehmen Preise senken müssen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Zudem müssen Regierungen sparen, um hohe Schuldenberge abzutragen. In Deutschland ist die Konjunktur hingegen relativ robust. Das schafft Raum für Investitionen und Lohnerhöhungen.
Darüber gehen die Meinungen auseinander. So warnt das DIW vor der Gefahr „einer sich selbst verstärkenden Deflationsspirale“ bei langanhaltend niedrigen Inflationsraten. DIW-Präsident Marcel Fratzscher fordert ein Eingreifen der Europäischen Zentralbank. Im „Focus“ schreibt er: „Ohne ein beherztes Eingreifen der EZB sehe ich schwarz.“ Europas Währungshüter rechnen zwar mit einer niedrigen Inflationsrate in diesem und im kommenden Jahr, Deflationsrisiken sehen sie aber nicht.
Draghi hat klargestellt, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, sollte die Teuerungsrate überraschenderweise weiter sinken. Die Notenbank prüfe auch weitere unkonventionelle Maßnahmen, darunter ein Programm zum Anleihekauf („Quantitative Lockerung/QE). „Ob die EZB noch einmal die Zinsen senkt, oder gleich ein breit angelegtes Anleihenkaufprogramm beschließt, würde wohl davon abhängen, wie stark sie ihren mittelfristigen Inflationsausblick nach unten korrigiert“, glaubt Commerzbank-Ökonom Christoph Weil.
Die EZB erwartet, dass die Inflationsrate schon im April wieder etwas anziehen wird. Volkswirt Weil erklärt, warum: Der übliche Anstieg der Preise für Reisen und Hotelübernachtungen rund um Ostern fällt in diesem Jahr in den April und nicht wie 2013 in den März. Zudem dürften die Energiepreise im April anders als im Vorjahr nicht sinken. Hierfür sprechen nach Weils Einschätzung etwa die tendenziell höheren Benzinpreise während der Osterferien. Insgesamt erwartet die Commerzbank, dass die Inflation im Euroraum in den kommenden Monaten um 0,8 Prozent pendeln wird.
Vorerst ja, allerdings stiegen die Preise für Nahrungsmittel in Deutschland zuletzt nicht mehr so rasant wie in den vergangenen Monaten. Da wegen des milden Wetters früher frisches Obst und Gemüse zu haben ist, dürfte der saisonübliche Preisrückgang für diese Waren in diesem Jahr früher einsetzen. 2013 hatte das kalte Frühjahr die Ernte verzögert. Sinkende Preise für Lebensmittel freuen die Verbraucher, sie können allerdings die Inflation insgesamt wieder etwas drücken.
In einer Phase der Wirtschaftsschwäche kann die Zentralbank den Leitzins im Prinzip lediglich bis auf null Prozent absenken. Wenn aber der natürliche Zins bei zum Beispiel minus zwei Prozent liegt, und wenn gleichzeitig auch die Inflation null Prozent beträgt, so wäre selbst der Nullzins noch zu hoch, und die Wirtschaft bliebe in der Unterbeschäftigung gefangen. Was ist davon zu halten?
Es ist eine irrige Annahme, der natürliche Zins könne auf null Prozent, geschweige denn darunter fallen – auch wenn das jüngst immer hartnäckiger in Frage gestellt wird. Der Marktzins kann zwar in der Tat null Prozent oder sogar auch negativ werden. Nicht aber der natürliche Zins, der eine Komponente des Marktzinses ist. Für den handelnden Mensch ist der natürliche Zins (man spricht auch von „Urzins“) immer und überall positiv.
Inflationsillusion
Hinter der Forderung nach einer höheren Inflation könnten sich natürlich auch andere, nicht offiziell genannte Beweggründe verbergen. Beispielsweise die keynesianische Überlegung, dass eine Inflation von vier Prozent besser sei als eine von zwei Prozent, denn das würde Produktion und Beschäftigung beleben. Würde eine höhere Inflation wirklich helfen? Diese These lässt sich leicht entkräften.
Ein unerwartetes Anheben der Inflation kann zwar zunächst ein konjunkturelles Strohfeuer auslösen. Aber es wäre absehbar nur von kurzer Dauer. Denn damit die Inflation expansiv wirken kann, muss sie dauerhaft höher ausfallen, als sie von den Marktakteuren erwartet wird. Eine derartige fortgesetzte Täuschung ist aber nicht möglich.
Um das zu verdeutlichen, betrachte man das folgende Beispiel. Die Marktakteure erwarten eine Inflation in Höhe von zwei Prozent. Nun steigt die Inflation unerwartet auf vier Prozent. Diese „Überraschungsinflation“ führt zur Umverteilung von Einkommen und Vermögen. Kreditgeber verlieren zu Gunsten der Kreditnehmer. Die realen Löhne fallen geringer aus, als die Arbeitnehmer es erwartet haben.