„Während meiner gesamten akademischen und beruflichen Laufbahn […] habe ich mich mit Überlegungen und Prognosen zur Weltwirtschaft befasst. In all den Jahren konnte ich, selbst wenn Krisen ausbrachen oder meine Prognosen weit daneben lagen, die Ereignisse mit meinen Kenntnissen aus Lehrbüchern oder geschichtlichen Zusammenhängen in Einklang bringen. Das ist in den heutigen außergewöhnlichen Zeiten nicht mehr der Fall.“ Mit diesen Worten beginnt David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, im Juni vergangenen Jahres einen Aufsatz zum Thema außergewöhnliche Zeiten.
Mit dieser neuen Epoche meint der Ökonom den Negativzins. „Zinsen auf diesem Niveau haben wir seit 20 Generationen nicht gesehen“, schreibt Folkerts-Landau. Dennoch würden Wirtschaftswissenschaftler über die aktuelle Situation im gewohnten Jargon diskutieren, auf Basis der vertrauten Theorien. Dieses „kollektive Nichtwahrhabenwollen“ sei beunruhigend.
Dieser Kommentar des Deutsche-Bank-Chefvolkswirts stammt schon aus dem vergangenen Sommer, aber aktuell sehen wir einige Folgen des Nichtwahrhabenwollens. Banken sehen sich schon nach nicht einmal zwei Monaten dazu gezwungen, ihre Kapitalmarkt-Prognosen wieder zurückzuziehen. Börsenkurse brechen ein, ausgerechnet die Banken gehören zu den größten Verlierern.
Eine eindeutige Erklärung findet keiner. Der niedrige Ölpreis? Oder doch China? Müssen sich Anleger auf eine neue Finanzkrise einstellen? Im Lehrbuch steht keine Lösung, denn das Szenario Negativzins kam bisher in der volkswirtschaftlichen Lektüre nicht vor.
Vorhersagen kassiert
Die zum Teil euphorischen Prognosen der Analysten stehen jedenfalls nur wenige Wochen nach ihrer Veröffentlichung schon wieder zur Disposition. Nicht nur am Aktienmarkt haben sich die Propheten verschätzt, auch die teilweise stark negativen Renditen am Anleihemarkt verhageln den Analysten die Vorhersagen. Einige, wie der bekannte Fondsmanager Luca Pesarini, haben angesichts der Risiken bereits die Bremse gezogen. Mithilfe von Termingeschäften hat Pesarini den Aktienanteil in seinen Fonds auf weniger als ein Zehntel gesenkt und im Gegenzug stärker in US-Staatsanleihen investiert. Bei US-Treasuries ist im Gegensatz zu Europäischen Staatsanleihen wenigstens kein Minus-Zins zu erwarten.
Am vergangenen Montag senkte auch die DZ-Bank, das Spitzeninstitut der Volks- und Raiffeisenbanken, seinen Kapitalmarktausblick. Statt wie zum Jahresbeginn für das Jahresende einen Dax-Stand von 11.000 Punkten zu prognostizieren, rechnet Analyst Christian Kahler für den deutschen Leitindex nun mit einer Zielmarke von 10.300 Punkten. Begründet hat der Analyst die neue Einschätzung mit den zahlreichen reduzierten Gewinnerwartungen von Unternehmen, auch im Dax.
"Analysten werden darüber streiten, ob es sich jetzt um eine neue Krise handelt oder um eine Verlängerung der vorherigen. Fest steht aber: Es gibt eine neue Phase der Verwerfungen im Finanzsystem", erklärt Wissenschaftler Harold James von der US-Eliteuniversität Princeton im Interview mit der "Welt".
Pessimisten bekommen Auftrieb
Die Zahl der Pessimisten steigt offensichtlich. Bei der US-Großbank JPMorgan etwa heißt es, man bleibe bei Aktien sehr vorsichtig gestimmt und rechne mit weiteren Schwächeanfällen in der zweiten Hälfte des Jahres, so die Investmentbank.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Ausschläge an den Börsen nicht nur Spiegel der wirtschaftlichen Entwicklung sind, sondern diese zugleich beeinflussen. "Der Orkan an den Börsen hat das Risiko einer weltweiten Rezession erhöht", sagt zum Beispiel Analyst Jochen Stanzl vom Broker CMC Markets. Die Unterfinanzierung der Erdöl-Unternehmen gefährde den Bankensektor, der ihnen das Geld lieh, warnt er.