Unter Risiko versteht man üblicherweise die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes (negatives beziehungsweise unerwünschtes) Ereignis eintritt. Nach dem klassischen Verständnis – das von den Mathematikern Christiaan Huygens (1629 bis 1695) und Jacob I. Bernoulli (1654 bis 1705) maßgeblich geprägt wurde – errechnet sich die Wahrscheinlichkeit als Zahl der günstigen Ergebnisse im Verhältnis zur Gesamtzahl der Ergebnisse.
Die Wahrscheinlichkeit, mit einem nicht verfälschten (fairen) Würfel eine sechs zu würfeln, beträgt 1/6. Es handelt sich hierbei um eine mathematische oder auch a priori Wahrscheinlichkeit: Der Ergebnisraum ist vorgegeben – es gibt nur die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 und 6 –, und nur eine dieser Zahlen kann das Ergebnis eines Würfelwurfes sein. Wenn der Würfel fair ist, hat jede Zahl die gleiche Wahrscheinlichkeit (Häufigkeit) erspielt zu werden.
Von der a priori Wahrscheinlichkeit unterscheidet sich die Wahrscheinlichkeit, ob es morgen regnet. Sie bestimmt sich erfahrungsabhängig: Im einfachsten Fall beobachtet man die Regen- und Sonnentage im, sagen wir, Monat Mai in den letzten 10 Jahren: Die Anzahl der Regentage (sagen wir 25 Tage), dividiert durch die Gesamtzahl der betrachteten Tage (310 Tage), ergibt eine Regenwahrscheinlichkeit an einem Maitag in Höhe von 16 Prozent.
Zur Person
Dr. Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt der Degussa sowie Mitgründer und volkswirtschaftlicher Berater und Mitgründer des P&R REAL VALUE Fonds. Er ist zudem Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth. In seiner auf wiwo.de erscheinenden Kolumne "Intelligent investieren" widmet er sich alle 14 Tage (immer mittwochs) den grundlegenden Irrtümern und Erkenntnissen der Geldanlage.
Manche Wahrscheinlichkeiten lassen sich nicht ermitteln
Die a priori Wahrscheinlichkeit unterscheidet sich ganz wesentlich von der erfahrungsabhängigen Wahrscheinlichkeit. Erstere verändert sich nicht, sie gilt immer und überall, heute, morgen und übermorgen. Bei der erfahrungsabhängigen Wahrscheinlichkeit weiß man hingegen nicht mit Gewissheit, ob sie auch morgen noch geeignet ist, die künftige Wahrscheinlichkeit für den Eintritt von Regentagen verlässlich abzuschätzen.
Denn die Natur kann Veränderungen bringen: Erderwärmung oder -abkühlung beeinflussen das Klima, Trocken- oder Nässeperioden wirken auf die regionale Niederschlagshäufigkeit ein. Mit anderen Worten: Die aus vergangenen Beobachtungen gewonnene Wahrscheinlichkeit sagt nicht logisch notwendig etwas über die künftige Wahrscheinlichkeit aus. Sie liefert bestenfalls so etwas wie eine „bewährte Bauernregel“.
Nun gibt es allerdings auch Situationen, in denen sich anhand objektiver Maßstäbe eine Wahrscheinlichkeit gar nicht sinnvoll beziffern lässt. Ich kann zum Beispiel nicht die Wahrscheinlichkeit ermitteln, dass Unternehmen X auch in ein oder zwei Jahren Marktführer bleibt. Eine Wahrscheinlichkeit dafür lässt sich weder mathematisch beziehungsweise a priori bestimmen, noch helfen hier Erfahrungswerte weiter.
Mit der Frage, ob Unternehmen X auch künftig erfolgreich sein wird, befinden wir uns nämlich im Bereich des menschlichen Handelns. Es zeichnet sich dadurch aus, dass handelnde Menschen ihre Ziele, Wünsche und Fähigkeiten im Zeitablauf nahezu fortwährend verändern. Menschen denken sich neue Dinge aus. Unternehmer bringen, wenn sie die Freiheitsräume dazu haben, fortwährend Produkt- und Prozessinnovationen auf den Weg.
Drei Arten von Risiko
Neue Märkte mit bisher unbekannten Produkten entstehen. Bisher etablierte Anbieter sehen sich neuen Konkurrenten gegenüber, werden von ihnen verdrängt. Aus heutiger Sicht lässt sich das künftige Ergebnis des Markt- und Wettbewerbsprozesses nicht vorab verlässlich abschätzen, denn ein Ergebnisraum (verglichen mit dem des Würfelspieles) lässt sich hier nicht angeben, und entsprechend lassen sich auch keine Eintrittswahrscheinlichkeiten ermitteln.
Damit haben wir drei Arten von Risiko unterschieden: (1) das mathematische oder apriorische Risiko, (2) das erfahrungsbedingte Risiko und (3) das Risiko, bei dem sich die Eintrittswahrscheinlichkeit nicht sinnvoll beziffern lässt. (1) und (2) lassen sich als das klassische Risiko verstehen, hingegen lässt sich (3) treffender als Unsicherheit begreifen. Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung für jeden, der an den Kapitalmärkten investiert.