Wo ist denn nun die Krise? In Deutschland oder England? Das konnten sich Anleger am Schwarzen Freitag fragen. Sie schauten am 24. Juni auf die Aktienmärkte und stellten fest: Am Ende des Tages hatte der Deutsche Aktienindex sieben Prozent verloren, der britische FTSE 100 weniger als zwei Prozent.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Das war kein Datenfehler in den Rechnungen. Der reine Indexvergleich ist nur die halbe Wahrheit. Kursveränderungen sind die eine Sache, Wertveränderungen eine andere. Bei der tatsächlichen Wertveränderung spielen die Währungen eine wichtige Rolle. Der Briten-Index wird in Pfund errechnet, der Dax und andere Euroland-Indizes in der Gemeinschaftswährung.
Das britische Pfund stürzte gegenüber dem Euro am Freitag um sechs Prozent. Die Abschläge bei den Kursen und bei Pfund addiert, kommt man auf acht Prozent. Das ist dann schon glaubhafter. Die Rechnung seit Jahresbeginn fällt mit einem Pfund-Abschlag von zwölf Prozent ähnlich aus. Börsianer begannen früh das Brexit-Risiko in der Währungsrelation zu berücksichtigen.
Bei den Wertveränderungen ist demnach „alles in Ordnung“. Sie spiegeln jedenfalls die Erwartungen wesentlich besser wider als Vergleiche von Indizes mit unterschiedlichen Währungsfundamenten. Mit diesem Phänomen mussten die Anleger in der jüngeren Zeit häufiger umgehen. In einigen Schwellenländern kam es zu dramatischen Bewegungen, die weit über das britische Beispiel hinausgingen.
Russland Spielball seiner Währung
Ein Paradebeispiel ist Russland. In der zweiten Jahreshälfte 2014 stagnierten die Aktienkurse an der Börse Moskau. Aber der stürzende Ölpreis belastete zu dieser Zeit, denn das Land ist abhängig von seinen Energieexporten. Bereits im Frühjahr hatte die Europäische Union Sanktionen gegen Russland wegen der Krim-Besetzung verhängt. Der russische Rubel halbierte sich annähernd. Die Aktien waren demnach ein Verlustgeschäft für ausländische Investoren.
Im laufenden Jahr geht es bisher anders herum. Der Ölpreis hat von den Tiefstpreisen deutlich angezogen. Dem russischen Aktienindex brachte das ein Plus von 15 Prozent. Dazu kamen etwa 20 Prozent Aufwertung des Rubels gegenüber dem Euro. Im Nachhinein wäre das ein gutes Geschäft für Anleger gewesen.
Aus aktueller Sicht drängt jedoch das britische Thema. Börsenprofis müssen darüber nachdenken, ob die Aktien auf der Insel inzwischen preiswert sind. Michael Hartnett hat das ausgerechnet. Der Chefstratege von Bank of America Merrill Lynch kommt zu dem Ergebnis: „Britische Aktien sind relativ zu Aktien aus den Industrieländern so billig wie seit 40 Jahren nicht.“
Tiefe Preise haben ihre Gründe. Die Aussichten für die Wirtschaft auf der Insel haben sich nach dem Brexit-Votum eingetrübt. Die Experten des Researchhauses Feri bringen das auf vier Worte: „Großbritannien vor der Rezession.“