Die Männer wirken erstarrt: Einer ist mit verschränkten Armen im Stuhl versunken, der andere hat sich hinter acht Monitoren verschanzt. Regungslos starren sie auf ihre Schirme. Drei Stühle weiter hockt ein Leidensgenosse, die Hände gefaltet. Allein: Beten hilft Hessens Maklern auf dem Börsenparkett nicht – es mangelt an Kundenaufträgen.
Die Ursache dieser Tristesse suchen Frankfurts Händler in Berlin: Dort, an der Börse Tradegate, hat der Bulle den Bären längst erlegt. Die Skulptur im Besucherraum signalisiert: Hier steigen Kurse, Tradegate ist auf der Gewinnerseite. Genau genommen ist es Gründer Holger Timm.
Tradegate in Zahlen
...Euro im Jahr setzte Tradegate zuletzt mit Aktien um, vor allem aus Orders von Privaten.
...Marktanteil hat Tradegate, mehr als die sieben Regionalbörsen zusammen.
...der Aktien handelt Tradegate zunächst auf eigene Rechnung.
Dem 57-Jährigen gehört die Mehrheit der Bank Tradegate AG, die an der Börse Tradegate Exchange mit Aktien handelt. Gegen den Trend im Börsenhandel ist sein Umsatz massiv gewachsen. Der Aufsteiger hat sogar das altehrwürdige Frankfurter Parkett überholt: 2013 setzte er 41,2 Milliarden Euro mit Aktien um – 31 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Frankfurt schaffte nur 25 Milliarden Euro. „Den Neid muss man sich erarbeiten“, sagt Timm.
Nun hat er einen großen Plan: Mithilfe seines Partners Deutsche Börse will der grauhaarige Mann Europa erobern. „Ich möchte die Tradegate Exchange als führende europäische Börse für Privatanleger weiterentwickeln“, sagt er und lupft seine Hornbrille. Sein „Baby“ Tradegate ist bereits führend bei deutschen Privatanlegern und brüstet sich, dass der Marktanteil am Aktienhandel im Vergleich zu den sieben Wettbewerbsbörsen 2013 auf „bis zu 58 Prozent gestiegen“ sei. Nicht drin in der Rechnung ist das elektronische Handelssystem Xetra, auf dem sich Profis tummeln.
Timms Geschichte ist ein Lehrstück, ein Musterbeispiel dafür, wie ein findiger Geschäftsmann von der gut gemeinten, aber realitätsfernen Regulierung der Europäischen Union (EU) profitiert. Betroffen sind Kunden fast aller Banken – von Sparkassen und Volksbanken bis hin zur Postbank.
Wer wissen will, warum Timm an Privatanlegern verdient, muss zurückschauen. Weil die EU Anleger schützen wollte, dokterte sie jahrelang an vermeintlich strengen Regeln für die Finanzmärkte herum – heraus kam die Regulierung Mifid. Die EU verdonnerte Banken dazu, Kundenaufträge („Orders“) zu den „bestmöglichen“ Konditionen auszuführen. Gibt der Kunde nicht vor, wo er handeln will – bei Volks- und Raiffeisenbanken ist das bei jedem dritten Auftrag so – entscheidet die Bank.
Was Tradegate-Anleger wissen müssen
Morgens und abends weitet Tradegate die Spanne zwischen An- und Verkaufspreis aus – die Gefahr steigt, dass Stop-Loss-Limits, bei denen Aktien automatisch verkauft werden, ausgelöst werden. Der Kurs geht kurz nach unten, die Aktien sind dann weg.
Wer dem Makler keinen Kauf- oder Verkaufspreis per Limit vorgibt, läuft Gefahr, dass Tradegate die Order zu einem ungünstigen Preis ausführt.
Wenn die Handelsplattform Xetra geschlossen ist (vor 9 und nach 17.30 Uhr), steigt das Risiko, einen ungünstigen Kurs zu bekommen. Denn dann gibt es keinen liquiden Markt mehr.
Nur theoretisch bester Preis
Timm profitiert von den Schwächen der Vorschrift: So müssen Banken nur sicherstellen, dass ein Auftrag zum theoretisch besten Preis ausgeführt wird. Laut Vorgabe sei es „nicht entscheidend“, welchen Preis ein einzelner Auftrag erziele, sondern „ob das Verfahren typischerweise zum bestmöglichen Ergebnis“ führe, sagt Thomas Dierkes, Vorstand der Börse Düsseldorf. Jedes Mal zu prüfen, wo es in der Minute den besten Preis gibt, ist teuer und aufwendig.
Banken machen daher Stichproben: Wo ist der Preis am günstigsten, wie hoch sind Gebühren, wie schnell wird eine Order abgewickelt? Auf Basis der Tests wird eine Rangliste erstellt. Die Börse, die oben steht, kriegt alle Aufträge – oft ist es Tradegate.
Orders für Tradegate
Doch die EU-Vorgabe lässt Spielraum.
Preise sind nicht verbindlich. Börsenmakler müssen zwar permanent veröffentlichen, zu welchen Preisen sie bereit wären, Aktien anzukaufen und zu verkaufen – zum Handel aber kommt es nicht ständig. Fließt kein echtes Geld, kann man sich nach außen besser darstellen, als man ist: Preise (Taxen) sind nicht verbindlich, können aber in die Rankings einfließen.
Banken nicht neutral. Die Institute können Ranking-Kriterien so gewichten, dass der Handelsplatz gewinnt, der ihnen selber Vorteile bringt. Timms Tradegate verrechnet abends alle Orders, die von einer Bank gekommen sind – so, als ob es nur einen Auftrag pro Aktie gegeben hätte. Die Kosten der Banken, sagt Timm, konnte er so um bis zu 80 Prozent reduzieren. „Banken haben damit einen Anreiz, ihr Ranking so aufzustellen, dass die Orders ihrer privaten Kunden an den für die Bank billigsten Handelsplatz gehen“, sagt Uto Baader, Chef der Baader Bank. Der für die Bank billigste Platz aber muss keineswegs der für Kunden günstigste sein.
Kostenlos, nicht umsonst
Wer im Ranking Handelskosten hoch gewichtet, könnte Tradegate Orders zuleiten – denn Tradegate nimmt von Anlegern keine Gebühren. Die DZ Bank, die Orders aus Volks- und Raiffeisenbanken weiterleitet, gewichtet Kosten mit 40 Prozent. Tradegate bekommt dort alle Orders inländischer Aktien und die der 50 größten europäischen. Die Deutsche WertpapierService Bank (dwp), die Orders für fast alle Sparkassen, Postbank und die Hälfte der Privatbanken routet, gewichtet Kosten gar mit 50 Prozent. Sie gibt Orders für Dax-Aktien bis 5.000 Euro an Tradegate. Die Bank betont, dass sie auf das für Anleger „günstigste Ergebnis“ abstelle. Das System sei „neutral“.
Kosten hoch zu gewichten ist aber unlogisch, sie machen nur Bruchteile der Anlegerrechnung aus. Wer etwa in München Dax-Papiere im Wert von 5.000 Euro ordert, zahlt zwei Euro an die Börse. Ein um ein Prozent schlechterer Kurs würde dagegen mit 50 Euro zu Buche schlagen.
Dass Tradegate Anleger gratis handeln lässt, schiebt Tradegate in den Rankings nach vorne und bringt Aufträge.
Allein: Der Handel kostet Geld, Händler brauchen moderne Technik, Mitarbeiter Gehalt. Die Tradegate AG verdient an der Spanne zwischen dem Preis, zu dem sie Aktien kauft, und dem, zu dem sie verkauft. „Der Handel ist die wesentliche Einnahmequelle der Tradegate AG“, sagt Timm.
10 Tipps für Börseneinsteiger
Bevor ein potentieller Anleger zum ersten Mal Aktien kauft, sollte er sich Gedanken darüber machen, welches Ziel er mit der Geldanlage verfolgt und für welchen Anlegertyp er sich hält. Wenn mit den Aktien später die Altersvorsorge aufgestockt oder das Studium der Kinder finanziert werden soll, muss an der Börse eine andere Taktik angewendet werden, als wenn es um kurzfristige Gewinne geht. Die grundlegende Frage ist: Sind Sie auf den Betrag angewiesen und investieren deshalb lieber mit möglichst geringem Risiko oder können Sie eventuelle Verluste verschmerzen und renditestärkere aber auch riskantere Papiere kaufen?
Wer die Frage nach der eigenen Risikoneigung mit "no risk, no fun!" beantwortet, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er zwar sehr viel gewinnen, aber auch sehr viel verlieren kann. Für den Anfang schadet es nicht, auf eine langfristige Strategie zu setzen und die Entwicklungen an den Märkten zu beobachten. Kleine Zockereien für den Nervenkitzel sind dann im Verlustfall besser zu verschmerzen. Nach dem Geckoschen Leitsatz "Greed is good" sollten Börsenneulinge nicht handeln.
Was eine Aktie ist und wie sie funktioniert, dürfte jedem klar sein. Wer sein Depot auch mit Anleihen und Zertifikaten füllen möchte, sollte nur in Produkte investieren, die er auch versteht. Wer nur auf die Renditeversprechen hört und Produkte kauft, deren Vor- und Nachteile, beziehungsweise Funktionsweisen er nicht begreift, fällt über kurz oder lang auf die Nase.
Bevor Sie ein Depot eröffnen, vergleichen Sie die Gebühren der Banken. Je höher die Gebühren sind, desto geringer fällt die Rendite nachher aus. Direktbanken haben im Regelfall günstige Konditionen und bieten kostenlose Depots an.
Anleger sollten ihr Geld - und damit auch ihr Risiko - zumindest am Anfang möglichst breit streuen. Verteilen Sie Ihr Geld auf verschiedene Märkte wie Rohstoffe und Energie, sowie auf Aktien, Fonds und Anleihen.
Wer seinem Portfolio Fonds oder Zertifikaten beimischt, sollte auch innerhalb dieser Anlageklassen auf eine gute Mischung achten. Fondsanbieter und deren Produkte lassen sich online schnell vergleichen. Wer nicht nur in ein oder zwei Gesellschaften investiert, ist auf der sicheren Seite.
Besonders wichtig ist, dass Sie sich Zeit nehmen für Ihre Geldanlage und Ihr Depot regelmäßig überprüfen: Welche Anlageinstrumente haben sich wie entwickelt? Ist es Zeit, das Depot umzuschichten, oder läuft alles in meinem Sinne?
Bei der Überprüfung des Depots sollte man sich immer mal wieder fragen: Würde ich diese Aktie oder diesen Fonds heute noch kaufen? Lautet die Antwort ja, behalten Sie das Produkt. Sind Sie von der Qualität nicht mehr überzeugt, wird es Zeit zum Verkauf.
Entwickelt sich eine Aktie oder ein sonstiges Produkt nicht so, wie geplant, sollten Sie nicht zögern, es zu verkaufen. Sogenannte Stopp-Loss-Orders, also Untergrenzen, bei denen verkauft werden soll, können hilfreich sein. Das bietet sich insbesondere dann an, wenn man den Kurs nicht permanent selbst im Auge behalten kann oder will.
Grundsätzlich gilt: Verlieren Sie nicht die Nerven. An der Börse gibt es Kursschwankungen, Aktienkurse können unerwartet einbrechen. Das sollte aber kein Grund sein, den Kopf zu verlieren. Panische und unüberlegte Deals kosten meist mehr Geld als die Abwärtstrends.
Solange das Handelssystem Xetra der Deutschen Börse offen hat, läuft alles weitgehend fair. Auf Xetra handeln von 9 bis 17.30 Uhr vor allem institutionelle Anleger mit großen Orders, der Platz ist die liquideste Börse. Dann orientieren sich Makler anderer Plätze an diesen Kursen, Xetra ist der Referenzmarkt – auch für Tradegate.
Wehe aber, Xetra hat zu. „Dann sinkt die Qualität der Preise massiv“, sagt ein Banker, in dessen Haus Tradegate auf der Rangliste über Jahre vorn stand. Das Problem: Viele Anleger beschäftigen sich erst abends mit ihrem Depot, bei dwp trudeln viele Orders abends ein, wenn Xetra zu ist. Dann ist Tradegate die liquideste Börse, der Platz hat von 8 bis 22 Uhr geöffnet. Bei den von dwp vertretenen Banken geben bis zu 60 Prozent der Anleger keinen Handelsplatz an. 15 Prozent dieser „weisungslosen Orders“ laufen außerhalb der Xetra-Zeiten auf.
29 Millionen Euro erhandelt
Dann, sagen Insider, verdiene Tradegate Geld. „Abends sind wir der Markt“, sagt Timm. 2013 erlöste seine Bank, die auch Makler an den Börsen Frankfurt und Berlin hat, netto gut 29 Millionen Euro im Handel. Kritiker werfen ihr vor, Anleger mit fragwürdigen Methoden abzukassieren. „Wir haben geprüft, ob wir Orders abends weiterleiten müssen“, sagt ein Banker. Er muss, und das „unverzüglich“, so will es die EU.
In Köln sitzt Volker Müller* vor sieben Bildschirmen. Der 43-Jährige handelt privat, aber in Vollzeit. Müller zeigt auf den Schirm unten in der Mitte. „Das ist mein wichtigster Monitor“, sagt er, über den Schirm handelt er, dort wird das Geld verdient – vorausgesetzt, Tradegate lässt ihn.
Der Blondschopf denkt nach. Es ist kurz nach 19 Uhr, Xetra hat zu, Müller will aber jetzt Osram-Aktien kaufen. Um Tradegate zu testen, tut er, was er sonst „niemals“ tun würde: Er gibt eine Order ohne Limit auf, bei der der Makler ihm Aktien zum nächstmöglichen Preis verkaufen darf. Müller will doppelt so viele Papiere kaufen, wie Tradegate zu dem Preis aktuell handeln würde. Wohl ist ihm nicht dabei, ein Profi würde dem Makler nie so einen Freibrief geben. Er macht eine Ausnahme und bekommt die ersten 300 Aktien tatsächlich zum von Tradegate vorab signalisierten Preis.
Elf Sekunden später erhält er die nächsten 300 – aber 0,85 Prozent teurer. Der Profi lehnt sich zurück und zieht die Augenbrauen hoch: „Ein guter Aufschlag“, sagt er ernüchtert. 91 Euro mehr hat ihn die zweite Ausführung gekostet. Wegen solcher Summen beschwert sich kein Anleger – bei Tradegate aber können sie sich läppern.
Kampf hinter den Kulissen
Tradegate hat den höheren Preis in derselben Sekunde angezeigt, in der die zweite Tranche des Auftrags ausgeführt wurde. Müller sitzt direkt vor dem Schirm, hatte aber keine Chance, den Auftrag zu löschen.
Die EU-Richtlinie verlangt, dass Makler die Preise publizieren, zu denen sie bereit sind, zu handeln. Händler veröffentlichen auch die Zahl der Aktien, die sie handeln würden. Anleger sollen wissen, welcher Preis sie erwartet. Wie lange der angezeigt werden muss, ehe gehandelt wird, sagt die EU nicht – vorgeschrieben sind lediglich „angemessene“ Bedingungen.
Die zehn wichtigsten Aktien-Regeln
Gegen die größer werdenden Unwägbarkeiten sollte man sich zuallererst mit einer Strategie wappnen: Wer an kräftiges Wachstum in Deutschland glaubt, an einen anhaltenden Boom der Schwellenländer und hohen privaten Konsum, kann weiter am Aktienmarkt investieren. Wer skeptisch ist, sollte seine Bestände hingegen nicht aufstocken.
Eng verbunden mit der ersten Regel: Immer wieder kommt es vor, dass sich Dinge anders entwickeln, als man erwartet hat. Es ist wichtig, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und nicht jeder Entwicklung hinterherzulaufen. Eine solche Reaktion zeugt nicht von einem geringen Vertrauen in die eigene Strategie. Es kostet meist auch Geld, weil die Masse schon vorher diese Richtung eingeschlagen und das Gros an Rendite eingefahren hat.
Groß oder klein, spekulativ oder konservativ, liquide oder illiquide, dividendenstark oder dividendenschwach, Substanz oder Wachstum: Bei Aktien ist die Auswahl riesig. Der richtige Mix aus spekulativen und konservativen Titeln hilft, Schwankungen zwischen guten und schlechten Zeiten auszugleichen. Nicht zu unterschätzen sind starke Dividendenzahler, die Jahr für Jahr den Grundstock für eine solide Rendite legen.
Keine Frage, die Börsen haben in den vergangenen zehn Jahren stärker geschwankt als in allen Dekaden zuvor. Das wird so bleiben, mit wachsendem Computerhandel sogar noch zunehmen. Wer sein Risiko minimieren will, baut Barrieren ein – sogenannte Stopps. Gerne werden Stopps bei 20 Prozent über und unterhalb des aktuellen Kurses gewählt. Dann wird automatisch verkauft, wenn diese Grenzen erreicht sind. Kommt eine Phase überraschend steigender Kurse mit anhaltendem Aufwärtstrend, lässt sich die Barriere leicht nach oben verschieben. Wichtig ist dann, auch die Barriere am unteren Ende nachzuziehen.
Wichtig in Phasen überraschender Kurssteigerungen oder -stürze ist es, das Verhalten der Masse zu beobachten. Ist es noch nachvollziehbar oder völlig irrational? Häufig ist es irrational. Dann hilft meist die zweite Regel: Widerstandskraft zeigen. Nach einigen Monaten kehrt die Rationalität von ganz allein zurück. Der Kurssturz aus dem vergangenen Jahr und die jüngste Entwicklung beweisen das gerade wieder.
Sind Aktien wie seit Jahresbeginn schon um 30, 40 oder gar 50 Prozent gestiegen, dann sind Anschlussgewinne in der Regel nur noch schwer zu erzielen. Phrasenverdächtig ist zwar die alte Weisheit: „An Gewinnmitnahmen ist noch niemand zugrunde gegangen.“ Richtig ist sie trotzdem.
Firmenchefs haben einen gewaltigen Vorteil gegenüber normalen Aktionären. Sie wissen weit mehr als jeder Analyst oder Kommentator, wie es in ihrem Unternehmen aussieht. Insider nennt man sie deshalb. Sie melden ihre Orders innerhalb von fünf Handelstagen an die Börsenaufsicht Bafin. Das Handelsblatt veröffentlicht alle zwei Wochen das sogenannte Insider-Barometer, das aus der Summe aller Kauf- und Verkaufsorders Schlüsse für den weiteren Verlauf in Dax & Co. zieht. Jüngste Tendenz: Vorstände und Aufsichtsräte verkaufen mehr als sie kaufen. Vorsicht also!
Terroranschläge und Naturkatastrophen kommen unerwartet. Politische Konflikte wie aktuell zwischen Israel und dem Iran schwelen meist länger. Entscheidende Wahlen wie jüngst in Russland und in diesem Jahr noch in Frankreich und den USA sind vorhersehbar und haben immer Einfluss auf die Börse. Dabei gilt generell: Wahljahre sind gute Börsenjahre.
Mit Optionsscheinen oder Bonus-Zertifikaten lässt sich zwar aus einem Aufwärtstrend ein noch größerer Profit schlagen. Dies sind jedoch in der Regel Wetten ohne realen Hintergrund. Aktien sind reale Werte.
Vor allem Aktien einzelner Branchen unterliegen immer wieder gewissen Moden. Doch die wechseln wie im realen Leben, und manchmal geht das schneller, als man denkt. Das bekommt gerade die einst angesehene Solarenergie-Branche bitter zu spüren.
Was „angemessen“ ist, ist strittig. Aufsicht über den Börsenhandel ist Sache der Länder. Die Berliner Aufsicht toleriert das Handelsgebaren, das in anderen Ländern undenkbar scheint: Hessens Aufsicht etwa schreibt vor, dass ein Anleger ohne „elektronische Hilfsmittel“ in der Lage sein müsse, auf einen geänderten Preis zu reagieren. Es gibt zwar keine feste Frist, „fünf bis zehn Sekunden“ solle der Händler aber warten, bis er eine Order ausführe. „Der Kunde muss die Chance haben, eine Order zu löschen, wenn sich der Preis verschlechtert. Die angemessene Zeit dafür liegt bei rund 30 Sekunden“, sagt Norbert Betz, Chef der Börsen-Handelsüberwachung in München. Und auch an der klassischen Börse Berlin muss ein Makler, wenn er zum ungünstigeren Preis abschließen will, „ zunächst etwas warten, bis er die Order ausführt – schließlich soll der Kunde noch auf den veränderten Preis reagieren können“, sagt Chef Jörg Walter. Der Fall Osram wäre in Hessen, Bayern und anderswo also zum Fall für die Aufsicht geworden – nicht so in Berlin.
Vorwürfe von Close Brothers Seydler
Hinter den Kulissen tobt daher der Krieg der Makler. Mittendrin: die Bank Close Brothers Seydler. Deren Makler handeln in Hessen – und dürfen nicht, was Tradegate erlaubt ist. Close Brothers hat sich deshalb in einem Brief an die Berliner Aufsicht beschwert. Der Vorwurf: Tradegate halte sich nicht an EU-Regeln, mache neue Preise und führe Orders in dem Moment aus, in dem der geänderte Preis angezeigt wird.
Stichproben deuten darauf hin, dass Anleger schlechtere Kurse bekommen, wenn Tradegate neue Preise in der gleichen Sekunde anzeigt und Orders ausführt (siehe Grafik). Timm rechtfertigt, ausführbare Orders würden „sofort automatisch vom elektronischen Handelssystem ausgeführt“. Sofern kein Referenzmarkt geöffnet sei, könne „die Preisfindung ausschließlich aufgrund der Orderbuchlage erfolgen“. Sein Computer berechnet den Preis anhand der vorliegenden Orders.
Das zeigt, wie gefährlich es ist, eine Order ohne Preislimit aufzugeben. Wer es tut, muss damit rechnen, dass Tradegate sie als „ausführbare Order“ betrachtet – liegt der nächste Preis tiefer, ist es Pech für Anleger.
Timm, der sich zum Gespräch mit der Redaktion ganz in Schwarz gekleidet hat, legt die Hand auf den Tisch: „Ich habe nie behauptet, dass wir immer die besten sind.“ Sagt’s und zuckt mit den Schultern.
„Das Börsengesetz lässt den einzelnen Börsen einen gewissen Spielraum bei der Ausgestaltung ihres Börsensystems“, sagt Renate Hinsken, Chefin der Börsenaufsicht in Berlin. Und „ob die Preise auf einer Handelsplattform wirtschaftlich für den Anleger Sinn machen, ist nicht unsere Frage“.
Indem Tradegate Orders schon in der Sekunde ausführt, in der der geänderte Preis angezeigt wird, hält die Börse Arbitrageure fern. Deren Computer suchen permanent nach Preisunterschieden zwischen Börsen. Ein steigender Preis an der einen Börse zum Beispiel lockt Arbitrageure an, die den Anstieg mit Verkäufen stoppen. Tradegate verhindert das, denn wenn die Computer einen veränderten Preis registrieren, ist das Geschäft längst gelaufen.
Alles unter Kontrolle
Andere Börsen, die daran verdienen, Käufer und Verkäufer zusammenzubringen, sehen Arbitrageure als nützlich an – helfen sie doch, die Spanne zwischen Ankaufs- und Verkaufspreis (Spread) zu drücken, sodass Anleger günstiger kaufen können. Nimmt die Börse keine Gebühren, steigt die Gefahr, dass sie nicht nur Käufe und Verkäufe von Anlegern gegeneinander ausführt, sondern Aktien erst mal selbst auf das eigene Buch nimmt und teurer wieder abgibt. „Jeder Makler will das Geschäft machen“, sagt Timm. Geschätzt handelt Tradegate 80 Prozent der Aktien selbst, statt Kundenorders zusammenzuführen. Den Spread vereinnahmt Timms Tradegate AG.
Hinsken von der Aufsicht soll Tradegate kontrollieren – doch in ihrer Behörde hat sie keinen Zugang zu Handelsdaten. Sie ist auf die Zusammenarbeit mit der Tradegate-Handelsüberwachung angewiesen.
Doch die steht unter dem Einfluss von Timm. Er ist Vorsitzender des Börsenrats der Tradegate Exchange. Ein Interessenkonflikt: Ihm gehört nicht nur die Mehrheit an der Tradegate AG, deren Händler an der Exchange Geld verdienen – Geld für Timm. Er ist auch Geschäftsführer der AG, die Anteile an der Exchange hält. Als Chef des Börsenrates gibt er die großzügigen Bedingungen mit vor, zu denen seine Leute die Orders filetieren. Aufgabe des Rates ist es überdies, die Börsenordnung zu erlassen, Händler zuzulassen, Geschäftsführer zu bestellen und abzuberufen, sie zu überwachen. Timm meint, es sei normal, dass Vertreter der Makler im Börsenrat sitzen. Timms Schwester Kerstin Timm verantwortet im Vorstand der AG den Handel. So aber hat der Bruder alles unter Kontrolle.
Aktien-Ampel bei Tradegate
Im Handelsraum der futuristisch angehauchten Tradegate-Zentrale am Ku’damm ist nur das leise Surren der Klimaanlage zu hören. „Hier wird nicht mehr geschrien und gebrüllt wie früher an der Parkettbörse“, sagt Timm. Seine Makler sitzen in einem Rondell an 40 kuchenstückförmigen Arbeitsplätzen. Auf ihren Rechnern blinkt es fortwährend: rot (Kurs fällt), gelb (unverändert), grün (steigt). Eine Ampel auf dem Monitor zeigt den Händlern, ob die Aktien, die sie überwachen, handelbar sind. Die Makler greifen ein, wenn der Computer hakt. Sie überwachen, ob er zu viele Aktien kauft. Falls ja, wird verkauft. Ihr Handelssystem wurde im eigenen Haus programmiert. Wie aber verdienen sie ihr Geld?
Preis nach oben schrauben. Der Computer macht Kurse – und hält angezeigte Preise nicht immer ein. Als ein Anleger kürzlich nach 18 Uhr Aktien eines Nebenwertes kaufen wollte, verteuerte Tradegate mehrfach den Preis, statt die Order auszuführen. Stunden später musste der Käufer 40 Cent oder zwei Prozent mehr pro Aktie zahlen, als der ursprüngliche Preis signalisierte.
Anleger können daraus lernen: Der Käufer wollte dreimal so viele Aktien kaufen, wie Tradegate anbot. Gerade in Randzeiten sollten Anleger maximal so viel ordern, wie ein Platz anzeigt. Sonst läuft er Gefahr, dass ein Makler mit Einblick ins Orderbuch sein Wissen nutzt – und der Preis für Käufer steigt. Wer offline handelt, sollte ab 9 Uhr, wenn Xetra öffnet, beim Banker anrufen, die Kurse der Börsen abfragen und dann den günstigsten Platz auswählen.
Immer einen Schritt vor dem Kunden. Anleger Müller will im Späthandel Commerzbank-Aktien kaufen. Er will Tradegate überbieten. Verkäufer sollen von ihm nun mehr Geld bekommen als von Tradegate. Eigentlich, denn kaum hat er die Order abgeschickt, zuckt es auf seinem Schirm – Tradegate hat jetzt ihn überboten. Prompt verkauft ein anderer Marktteilnehmer 170 Aktien über die Börse. „Hätte Tradegate meinen Preis nicht überboten, hätte ich die bekommen“, sagt Müller. Sein Blick schweift über seinen Garten, doch selbst die bunten Blumen können ihn nicht beruhigen. „So geht das jeden Tag“, sagt er. Immer wenn sein Angebot besser ist als der Tradegate-Preis, überbietet die Maschine ihn um einen Zehntelcent. „Tradegate will das Geschäft selbst machen“, sagt er. Timm kontert, dass sein Computer die Preisqualität im Sinne privater Anleger verbessere.
Wie man an der Börse die besten Chancen hat
Stop-Loss-Orders, bei deren Unterschreiten automatisch verkauft wird, disziplinieren und bewahren davor, permanent nach Kursen schauen zu müssen. Sinnvoll aber nur bei sehr liquiden Werten. Bei Aktien unterhalb des Dax gefährlich, weil Profis die Aktien unter das Stopp-Loss drücken und billig abfischen könnten.
Stimmen die Gründe für den Kauf noch, wird eine Aktie nur ihrer Kursgewinne wegen nicht riskanter. Also halten, auch dann, wenn es zwischenzeitlich nach unten geht. Verschlechtern sich wesentliche Parameter: verkaufen.
Angst und Gier treiben die Herde, so entstehen heftige Kursbewegungen, die aber auch schnell wieder drehen und deshalb gute Kauf- und Verkaufschancen bieten. US-Ökonom Robert Shiller zieht Parallelen zum Fußball: „Halte dich von der Meute fern, dann wird der Ball früher oder später zu dir kommen.“
Wer Unternehmen mit überzeugendem Geschäftsmodell hält, prüft Kennzahlen wie Kurs-Gewinn-Verhältnis, Umsatz- und Cashflow-Entwicklung über viele Jahre und vergleicht sie mit den Zahlen der Konkurrenten. Gründe, die zu einem Investment führen, schriftlich festhalten: hilft klarer zu denken und kann, wenn der Wunsch, zu verkaufen übermächtig wird, nachgelesen werden.
Irren ist menschlich. Wer schon beim Aktienkauf festlegt, welches Minus er maximal akzeptiert, schützt sich vor Illusionen. Etwa der, nur noch Nachrichten wahrzunehmen, die die eigene positive Überzeugung stützen.
Jetzt zettelt Müller einen Kleinkrieg an: Immer, wenn Tradegate ihn übertrumpft, drückt er „Beat“ – überbieten. Müller und die Börse schaukeln den Ankaufspreis hoch, bis der nahezu dem Verkaufspreis entspricht. Er hat genug, löscht die Order. Sofort zieht Tradegate die Spanne breiter, senkt den Ankaufspreis. „Das ist nicht Zweck einer Börse, die Käufer und Verkäufer zusammenbringen soll“, sagt Müller.
Auf Tradegate, so scheint es, macht der Makler das Geschäft. Basta.
Stop-Limits als leichte Beute. Diese Limits sollen vor Verlusten schützen. Fällt die Aktie unter das vom Anleger gesetzte Limit, soll der Makler Aktien automatisch verkaufen. Auf Tradegate aber kann ein Limit ausgelöst werden, wenn der Makler nur eine Taxe eingibt, die nicht verbindlich ist. Es kann zur Kettenreaktion kommen: Außerhalb der Xetra-Zeit sinkt die Liquidität, das Risiko für Tradegate steigt. Dies lässt sich der Händler bezahlen, indem er seine An- und Verkaufspreise auseinanderzieht: Anleger kriegen schlechtere Preise.
Anleger handeln gratis
Werden durch die breite Spanne Stops ausgelöst, werden Aktien verkauft. Der Kurs sinkt, weil Tradegate den nächsten Preis tiefer ansetzt. Im schlimmsten Fall werden weitere Stops gerissen, der Preis sinkt – wie am 7. August. Da purzelte der Siemens-Kurs im Späthandel – obwohl das Angebot in Stuttgart besser war (siehe Grafik). Timm kontert: Die Preise seien „nach Orderbuchlage“ gemacht und „nicht zu beanstanden“. Die Aktien der Anleger aber waren raus aus dem Depot.
Spanne verschieben. Es ist ein Trick unter Maklern, die Kundenaufträge sehen können. Liegen viele Kauforders vor, setzt der Makler beide Preise hoch – den, zu dem er kaufen, und den, zu dem er verkaufen würde. Das fällt kaum auf: Die Spanne zwischen An- und Verkauf, auf die viele gucken, bleibt genauso breit wie auf Xetra.
So geschehen am 2. Juli. Gegen 11.15 Uhr wickelte Tradegate sechs Geschäfte in Aktien der Deutschen Bank ab. Fünf Mal wurden Käufer im Vergleich zu Xetra einen halben Cent schlechter bedient. Für Anleger entscheidet ein halber Cent zwar nicht über den Anlageerfolg – für Tradegate aber macht Kleinvieh den Tag über viel Mist. Da Tradegate in Dax-Aktien für 50 000 Euro Volumen „Wort halte“, könne es zu geringen Abweichungen kommen, sagt Timm.
Starke Verbündete
Viel Geschäft holt Timm auch von Online-Brokern. Die stellen auf ihren Ordermasken eine Börse vorab ein. Will der Anleger dort nicht handeln, muss er aktiv eine neue Börse anklicken. Bei Cortal Consors etwa erscheint Tradegate als erster Börsenplatz. Das verwundert nicht: Die Consors-Mutter BNP Paribas ist an Timms Tradegate AG beteiligt und kassiert Dividende.
Timms zweiter Aktionär ist die Deutsche Börse. Die müsste den Aufsteiger eigentlich kleinhalten, arbeitet aber tatkräftig mit, Orders zu Tradegate zu schaufeln. Die Deutsche Börse hat ihren Anteil sogar noch aufgestockt. "Die Aufstockung hat für uns strategischen Charakter und bekräftigt unsere langfristig ausgerichtete Kooperation mit der Tradegate AG", erklärte Martin Reck, Managing Director des Kassamarktes der Deutschen Börse.
Der heutige Deutsche-Börse-Chef Reto Francioni war im Mai 2000 Co-Vorstandschef der Consors AG. Die übernahm damals 53 Prozent an der Tradegate-Mutter Berliner Effektengesellschaft. Timm jubelt bis heute: „Consors war der erste große Kunde der damaligen Handelsplattform Tradegate, da konnte ich testen, was Anleger wollen.“ Die Presse jubelte mit: Consors wolle dem Platzhirsch Deutsche Börse Konkurrenz machen. Endlich.
Später holte sich Timm sein Baby teils zurück, sodass die Berliner Effekten wieder mehrheitlich ihm gehört. Francioni wurde 2005 Chef der Deutschen Börse und kaufte Anfang 2010 fünf Prozent an Timms Tradegate AG und 75 Prozent an der Tradegate Exchange. Mittlerweile hält Deutschlands größter Börsenbetreiber nach der Ausübung von Kaufoptionen knapp 15 Prozent nach zuvor rund fünf Prozent.
Umgekehrt wäre besser gewesen: Die Exchange macht kaum Gewinn, weil Anleger gratis handeln, das dicke Geld machen Timms Makler, die aber zur Tradegate AG gehören. Francioni scheint das nicht zu stören. Seit Jahren entsenden die Frankfurter eine Führungskraft in die Geschäftsführung der Exchange. Aufgabe: Marketing, neue Kunden an die Plattform anbinden. Die Deutsche Börse arbeitet daran, dem eigenen Handelsplatz Marktanteile abzujagen. Vor allem Xetra soll Orders an Tradegate verloren haben. Francioni hat sich die Option gesichert, die Beteiligung an der AG auf 20 Prozent aufstocken zu können. So könnte er stärker an Gewinnen teilhaben. Allein: Warum nutzt er die Option nicht?
Fragen dazu wollten weder Francioni noch sein verantwortlicher Manager Martin Reck beantworten. Ob die Vorwürfe gegen Tradegate eine Rolle spielen? Im Bilde ist Reck. Der Redaktion liegt ein Schreiben vor, in dem Manager seiner Börse auf die Handelspraktiken bei ihrer Berliner Tochter hingewiesen werden.
In Frankfurt hat Reck die Makler zur Räson gerufen: Die Börse gibt Anlegern seit November eine „Qualitätsgarantie“. Reck hat versprochen, dass Anleger Aktien bis zu 7500 Euro zu Preisen wie am jeweiligen Referenzmarkt oder besser handeln können. Weichen Kurse ab, müssen Makler die Differenz erstatten.
Für Tradegate gilt die Garantie nicht.