Die Börsen sind momentan auf Talfahrt. Wie beurteilen Sie die Lage am Aktienmarkt?
Roman Zulauf: Wir befinden uns offenbar am Ende eines zyklischen Bullenmarktes, der im Frühjahr 2009 seinen Anfang nahm. Die Hausse geht bereits in ihr sechstes Jahr. Dass mit der Euphorie, die in der Endphase eines solch langjährigen Bullenmarktes vorhanden ist, auch die Nervosität steigt, ist vollkommen normal. Die politische Lage in der Ukraine und Russland und das Gezanke mit EU und USA sind aus unserer Sicht eigentlich nur ein kurzfristiges Problem.
Wo liegen denn die langfristigen Probleme?
Daniel Franc: Viel wichtiger ist, was sich mittlerweile in China abspielt. Das Land hat sich gerade in eine negative Abwärtsspirale begeben. Das dürfte die Aktienmärkte mittelfristig viel stärker belasten.
Ist Chinas Problem mehr als eine vorübergehende Schwäche?
Zulauf: Nach einer zehn Jahre andauernden Boomphase in den Schwellenländern sehen wir dort definitiv eine Trendumkehr. Die Kapitalzuflüsse der vergangenen zehn Jahre müssen erst bereinigt werden. Dabei handelt es sich nicht um eine zyklische Bereinigung, die nach ein paar Quartalen beendet sein dürfte, sondern es handelt sich um einen strukturellen Wechsel, der uns noch mehrere Jahre begleiten wird. Angefangen hat diese Entwicklung in den schwächsten Schwellenländern mit den größten Zahlungsbilanzschwierigkeiten. Zuerst war das in Ländern wie der Türkei, Indien, Brasilien, Südafrika oder Indonesien zu sehen. Die Probleme werden nach unserer Auffassung immer mehr Schwellenländer erreichen, schließlich auch China im Zentrum dieser Entwicklung.
Was geschieht dann?
Zulauf: Das Land hat lange von den immensen Kapitalzuflüssen im Zuge der Globalisierung profitiert, vor allem seit der Finanzkrise. Die Konjunkturpakete nach 2008 zur Stimulierung der Wirtschaft haben zu großem Kreditwachstum geführt, ausländisches Kapital angelockt und die Immobilienpreise sowie die Löhne stark steigen lassen. Das hat der Wettbewerbsfähigkeit Chinas geschadet und das Produktivitätswachstum gebremst. Hinzu kommt, dass Japan als wichtiger Konkurrent auf dem Exportmarkt den Yen um rund 30 Prozent abgewertet hat in den letzten 15 Monaten. Der chinesische Unternehmenssektor bekundet größere Rentabilitäts- und Cash Flow-Probleme. In der Folge sind die Renditen auf das eingesetzte Kapital gesunken. Ich glaube daher, dass wir uns am Anfang einer Zahlungsbilanzkrise in China befinden. Weil die strukturell bedingt ist, wird deren Überwindung auch nicht so schnell gehen.
Was hat China so in die Bredouille gebracht?
Zulauf: Bis Anfang Februar gelang es China noch, die eigene Währung stabil zu halten. Dass im Februar die Exporte Chinas deutlich eingebrochen sind, ist ein Indiz dafür, dass die Kapitalströme vollends versiegt sind. Dass trotzdem Kapital importiert wird, deutet auf eine Kreditklemme im Inland hin. Aber jetzt versiegen die Kapitalzuflüsse aus dem Ausland nicht nur, sondern es fließt Kapital aus China ab. Dann muss die Zentralbank Dollar verkaufen und Renminbi kaufen, um die Währung stabil zu halten. Das hat in der Konsequenz zu Verwerfungen am Interbankenmarkt geführt, weil es de facto zu einer Verknappung der Geldmenge führt. Mitte Februar musste China die Renminbi-Aufwertung stoppen, weil die Kreditklemme immer offensichtlicher wurde. Also hat sich Chinas Zentralbank darauf konzentriert, den Zinsmarkt zu beruhigen, indem sie mehr Liquidität zur Verfügung stellte, Dollar gegen Renminbi kaufte und eine Abwertung der eigenen Währung als kleineres Übel akzeptierte. Das treibt auch den Dollar- und den Euro-Kurs nach oben. In der Konsequenz sind die Renditen für ausländische Kapitalgeber in China nicht mehr attraktiv.
Schwacher Renminbi belastet die Börse
Angesichts der gewaltigen Devisenreserven Chinas sollte es an Kapital doch nicht fehlen.
Zulauf: Der Mangel an ausländischem Kapital bewirkt eine Rückkopplung epischen Ausmaßes auf Chinas Unternehmen. Jahrelang hat China den Renminbi schleichend aufgewertet und die Zentralbankbilanz hat sich dennoch immer weiter verlängert, in dem sie US-Dollars und Euros aufkaufte und Renminbis verkaufte um die Aufwertung abzufedern. Das Resultat war eine massive Erhöhung im Banken- und Wirtschaftssystem, was dann zu besagtem Kreditboom führte. Chinas Regierung will jetzt langsam Luft aus diesem Ballon entweichen lassen. Aber ich bezweifle, dass das gelingt, denn die Handlungsspielräume sind in so einer Situation sehr eingeschränkt.
Welche Optionen hat China?
Zulauf: Chinas Zentralbank hat jetzt im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie hält ihre Währung stabil, wie sie es bis Anfang Februar versucht hat. Weil sie dafür Devisenreserven verkauft hat, kam es schon seit Sommer 2013 immer wieder zu Turbulenzen am Interbankenmarkt. Das heißt, sie verkauft US-Dollars und Euros und kauft Renminbis, was zu einem Liquiditätsentzug führt. Oder sie stützt den Interbankenmarkt, um die Kreditklemme zu lösen. Dafür muss sie Liquidität bereitstellen, das heißt, sie verkauft Renminbis und kauft US-Dollars und Euros, was zu einer Vergrößerung der Zentralbankbilanz und somit der Geldmenge führt. In der Konsequenz wertet dann die Währung ab, wie es Mitte Februar geschehen ist. Beides, stabiler Wechselkurs und genügend Liquidität im Interbankenmarkt zugleich, geht nicht, wenn die Zahlungsbilanzdynamik sich ändert.
Also droht ein Abwertungswettlauf bei den Schwellenländerwährungen?
Zulauf: Das ist die finanzwirtschaftliche Komponente. Realwirtschaftlich haben japanische Unternehmen Rückenwind. Durch die Abwertung des Yen konnten sich Japans Unternehmen einen größeren Anteil am Exportkuchen sichern. Wenn China nun seinerseits mit einer Abwertung der eigenen Währung liebäugelt, erhöht das den Konkurrenzdruck und drück die Gewinnmargen. Andere Exportländer wie Taiwan oder Korea verschärfen den Verdrängungswettbewerb am Exportmarkt. In der Konsequenz sollte das die Inflation in den USA zumindest stabilisieren oder in der Tendenz sogar drücken, weil die USA als größter Abnehmer der Produkte aus Fernost von den billigeren Importen profitieren. Das wiederum wird die Zinsen in den USA nach unten ziehen und den Dollar-Yen-Wechselkurs belasten. Dann verstärkt sich die Abwärtsspirale - ein wechselseitiger Prozess, wie wir ihn in Japan und den USA schon in den vergangenen 15 Monaten beobachten konnten. Der verbilligte Yen sorgte für einen Anstieg des Aktienindex Nikkei als Folge von steigenden Zinsen bei den US-Staatsanleihen. Dieser Trend scheint nun ebenfalls die Richtung zu wechseln.
Wie bedeutet die Schwellenländerkrise für die anderen großen Börsenplätze?
Zulauf: Das wirkt vor allem auf die Aktienmärkte, die bislang stark von Chinas Aufschwung profitiert haben. Vor allem die exportorientierten Unternehmen in Europa sind dann die großen Verlierer, weil sich deren Waren für Schwellenländer verteuern. Nur die US-Börse dürfte weniger stark betroffen sein.
Deutschen Unternehmen droht Ungemach
Werden deutsche Aktien besonders leiden?
Zulauf: Ja, vor allem im Dax und MDax. Ihnen droht Ungemach von zwei Seiten. Die nordasiatischen Länder haben zwar funktionierende Produktionssektoren und hohe Kapazitäten in ihren Ländern, etwa in China, Taiwan oder Korea. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die Produzenten nun die Gewinnmargen senken. Die Rentabilität kommt also unter Druck und teilweise fällt der Wechselkurs. In den restlichen Schwellenländern wie der Türkei, Brasilien oder Indien gab es hohe Leistungsbilanzdefizite und sie können es sich nicht mehr leisten, viel zu importieren. Von dieser Seite bricht auch ein Teil der globalen Nachfrage weg. Beides ist ein sehr starker Gegenwind für die europäische Produktion, weil die Verkaufserlöse und die globale Nachfrage zurückgehen. Zusammen ist das schon ein disinflationärer oder sogar deflationärer Effekt, der auf europäische Unternehmen zukommt und Deutschland besonders stark trifft. Aber die Bundesregierung hat ja alles bestens im Griff und bereits gesagt, Deutschlands Handelsbilanzüberschüsse seien sowieso nicht so gut und sollten verringert werden. Verzeihen Sie die Ironie.
Franc: Es wird noch für eine geraume Zeit Druck da sein. Die Kursrückschläge vom Januar waren nur der Vorgeschmack auf das, was noch kommen dürfte. Jetzt stehen wir möglicherweise am Beginn einer zweiten Welle. Wir sind in diesem Bullenmarkt schon weit fortgeschritten. Die Bewertungen sind hoch. Trotzdem erwarten viele, dass es noch weiter rauf geht, bis zum 18-fachen der erwarteten Unternehmensgewinne im Aktienindex S&P zum Beispiel. Das war in der Rückschau aber bisher nur einmal der Fall, nämlich zwischen 1998 und 2000. Wir sind zwar nicht an einem Punkt wie vor dem Platzen der New-Economy-Blase damals, aber es gibt schon wieder viele Börsengänge von Unternehmen, die noch Verluste schreiben. Es ist sehr viel Euphorie im Spiel. Das zeigt zum Beispiel auch der Kauf von Twitter durch Facebook für 18 Milliarden Dollar.
Bislang hat der Markt alle Warner vor zu hohen Bewertungen widerlegt.
Franc: Bisher ist es immer wieder gut gegangen und der Markt vermochte immer wieder aufzustehen – obwohl die Signale aus China schon seit Jahresbeginn bedenklich sind. Das hat der Markt immer wieder weggesteckt. Aber der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Meist geht das länger, als man denkt. Die Gewinnmargen kommen unter Druck, die Insider-Verkäufe nehmen zu, die Aktienbewertungen steigen. Irgendwann kippt das Ganze. Zum Beispiel sind am US-Markt die Lombardkredite im Verhältnis zur Bewertung am Aktienmarkt so hoch wie nur selten in der Geschichte. Viele Aktienkäufe wurden durch solche Lombardkredite finanziert. Wenn der Druck zu groß wird, müssen Investoren ihre Aktien wieder verkaufen. Es kann also in einer solchen Situation viel in ziemlich kurzer Zeit passieren.
Wie schlimm wird es Ihrer Schätzung nach?
Franc: Wir glauben zwar nicht, dass uns der Weltuntergang bevorsteht, aber es könnte schon eine sehr scharfe Korrektur geben. Im breiten US-Index kann es dann schon mal 10 bis 20 Prozent korrigieren. Aber das kann auch ein guter Einstiegszeitpunkt sein. Ähnlich sehen wir das für den japanischen Nikkei. Auch da könnte es zu einer kurzen und heftigen Korrektur kommen. Aber längerfristig sind wir eigentlich ziemlich bullish für den Nikkei. Regierungschef Abe wird sein monetäres Experiment fortsetzen und den Yen längerfristig schwächen. Dadurch dürften auch die Aktien längerfristig steigen.
Zulauf: 2013 war ja ein sensationelles Aktienjahr. Wenn es jetzt zur Korrektur von zehn oder 20 Prozent – je nach Aktienmarkt - kommt, entspricht das einer gesunden Bereinigung. Danach muss man wieder schauen, wo es gute Kaufgelegenheiten bei Aktien gibt.
Die Konjunkturprognosen zum Jahresbeginn waren überraschend positiv. Sind die jetzt alle überholt?
Zulauf: Wir teilen die mehrheitliche Einschätzung der Konjunktur für die USA. Für die amerikanische Wirtschaft sind wir optimistisch. Unter dem Strich wird sie sogar von den Turbulenzen im asiatischen Raum und auch im europäischen Raum profitieren. Auf der anderen Seite glauben wir, dass die Konjunkturprognosen für den asiatischen Raum im Allgemeinen und für China im Besonderen dramatisch zu hoch liegen. In Europa sehen wir nach wie vor keine Basis für ein solides Wirtschaftswachstum. Die sehr optimistischen Prognosen für den Euro-Raum liegen vor allem in weichen Stimmungsindikatoren begründet, die sich zweifellos gut entwickelt haben. Aber bei den harten Zahlen, wie beim Kreditwachstum, überzeugt der Aufschwung nicht. Da sind wir bei minus fünf Prozent im Jahresvergleich. Wir befinden uns also in einem Entschuldungsprozess. Außerdem sehen wir in der Euro-Zone das, was die Schweizer Großbanken als Folge der Finanzkrise schon weitestgehend abgeschlossen haben: die Halbierung der Bilanzsumme bei den Banken. In der Euro-Zone beginnt das jetzt erst, die Stresstests stehen vor der Tür. In so einem Umfeld erwarten wir nicht, dass die Konjunktur sonderlich positiv überrascht.
Konsequenz: Aktien reduzieren, außer Gold- und Silberminen
Die politisch getriebenen Börsen dürften uns also noch eine Weile erhalten bleiben.
Zulauf: Die letzten zehn Jahre waren für die Schwellenländer wunderbar, ruhig und harmonisch. Jetzt sehen wir mit dem Ende der zehnjährigen Boomgeschichte, dass es auch wieder innenpolitische Spannungen in diesen Ländern gibt. Die Ukraine, Thailand und Venezuela etwa stehen am Rande eines Bürgerkriegs. Die Unruhen in der Türkei nehmen wieder zu. In Brasilien demonstriert mittlerweile der Mittelstand gegen die Regierung. In Argentinien gibt es Unruhen. Diese Fakten sind meiner Meinung nach noch zu wenig bei den Risikoprämien an den globalen Aktienmärkten berücksichtigt.
Ist Russland der nächste Krisenherd für die Weltwirtschaft?
Zulauf: Wenn man es nüchtern betrachtet, ist das eigentlich nur ein kurzfristiges Störfeuer des Westens. Das Verhalten des Westens ist an Naivität ja nicht zu überbieten. Putin agiert noch souverän. Wer sich da nicht souverän verhält, sind vielmehr die Entscheidungsträger in Brüssel oder Washington. An einem Krieg in der Ukraine hat aber niemand Interesse. Also werden die politischen Spannungen zwischen dem Westen und Russland zunehmen. Die politische Harmonie, die zehn Jahre lang die Globalisierung begünstigt hat, erleidet einen Rückschlag. Das wird entsprechende wirtschaftliche Konsequenzen für alle Beteiligten haben.
Franc: Schon bevor es zum Streit mit der Ukraine kam, stand der Rubel unter großem Druck, ebenso die Moskauer Börse. Auch da hat Russlands Notenbank lange versucht, die Märkte stabil zu halten. Aber wie im Falle Chinas hat die Stabilisierung des Rubels eine Liquiditätskrise im Inland provoziert. Die russische Zentralbank wirft teilweise massiv Dollarreserven auf den Markt um den Rubel zu stützen. In den Medien hört man nichts davon, dass in Russland in den vergangenen drei Monaten bereits 800 kleinere Banken schließen mussten. Irgendwann wird die Notenbank eine Abwertung des Rubels nicht mehr verhindern können, weil sie Liquidität im Interbankenmarkt einschießen muss.
Wann lässt sich Anlegern in dieser Gemengelage empfehlen?
Zulauf: Wenn jemand in der glücklichen Lage war, die Aktienhausse mitzumachen, wäre jetzt sicher ein guter Rat, Gewinne mitzunehmen, die Aktienquote zu reduzieren und mehr Cash zu halten. Wer etwas wagemutiger handeln will, kann mal versuchen, erstklassige Staatsanleihen wie US-Treasuries oder Bundesanleihen zu spielen. Ebenfalls attraktiv erscheint uns den Renminbi zu shorten und auf steigende Zinsen in Hong Kong zu setzen. Wenn die Korrektur an den Aktienmärkten ein gewisses Panikniveau erreicht hat, können Anleger dann auch wieder über den Aufbau der Aktienquote nachdenken.
Franc: Es hängt natürlich immer davon ab, welchen Zeithorizont der Anleger hat und wie viele Verluste er verkraften kann. Um das Beispiel Japan nochmals aufzugreifen: Kurzfristig kann es beim Nikkei schon deutliche Rücksetzer geben. Auf Sicht von drei oder fünf Jahren bleibt der Nikkei aber sicher eine gute Anlage. Optimistisch sind wir unter anderem bei den Edelmetallen, insbesondere setzen wir seit Jahresbeginn auf Edelmetallaktien größerer Minengesellschaften. In dem Sektor ist in den vergangenen Jahren viel passiert, die meisten Titel sind um 70 bis 80 Prozent gefallen. In einigen Gesellschaften wurde das Management ausgewechselt, es wird vermehrt auf Rentabilität und Cashflow geachtet. Diese Aktien haben sich vom Tief schon etwas erholt, aber wir glauben, dass kann noch eine Weile so weitergehen.