Goldman Sachs bricht mit den BRICs. Die einflussreiche US-Investmentbank, deren Chefvolkswirt Jim O’Neill einst die Abkürzung BRIC – gebildet aus den Anfangsbuchstaben der großen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China – geprägt hatte, rät Anlegern , ihr Engagement an den Emerging Markets zu verringern. Goldman Sachs prognostiziert für die nächsten zehn Jahre eine „erhebliche Underperformance“ der Aktien, Anleihen und Währungen. Übersetzt heißt das: verkaufen, Finger weg!
Krisen in den Schwellenländern wurden in der Vergangenheit gewöhnlich von einer strafferen US-Geldpolitik ausgelöst. Steigende Zinsen in den USA verteuern die Finanzierungskosten für Investitionen und bremsen die Neigung internationaler Investoren, Risiken einzugehen. In Zeiten der Nullzinspolitik und großer Anleihekaufprogramme (Quantitative Easing, QE) ziehen Investoren schon dann Geld ab, wenn die US-Notenbank Fed ankündigt, diese Programme zu reduzieren, also weniger Liquidität in die Märkte zu pumpen.
Der Film läuft rückwärts
Die Aktienmärkte der Schwellenländer waren zunächst die großen Gewinner von QE. In den zwei Jahren nach der Erstauflage von QE im März 2009 legte der Index MSCI Emerging Market um rund 160 Prozent zu. Mit QE pumpte die Fed eine gewaltige Kreditblase in den Emerging Markets auf. Deren Notenbanken mussten dagegenhalten: Sie versuchten, die Zinsen zu drücken, um die Anlage in ihren Ländern und ihre Währungen weniger attraktiv zu machen. Niedrige Zinsen befeuerten einen binnenwirtschaftlichen Boom, der letztlich aber von ausländischen Investoren finanziert war. Dieser Boom geht nun zu Ende, der Film läuft jetzt plötzlich rückwärts: Die ausländischen Gelder fließen ab, die Notenbanken heben die Zinsen an, um Kapital im Land zu behalten. Im Ergebnis platzt der Kreditboom, und die Konjunktur leidet.
Die BRIC-Staaten schwächeln
BIP-Wachstum 2010: 10,4 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 7,8 Prozent
Quelle: IWF
BIP-Wachstum 2010: 11,2 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 5,6 Prozent
BIP-Wachstum 2010: 4,5 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 2,5 Prozent
BIP-Wachstum 2010: 7,5 Prozent
BIP-Wachstum 2013 (Prognose): 2,5 Prozent
Die Diskussion um eine Drosselung der Käufe von Staatsanleihen und Hypothekenpapieren durch die Fed hatte schon im Sommer für Einbrüche gesorgt. Zinsen schnellten nach oben, Börsen und Landeswährungen stürzten ab. Besonders unter Beschuss gerieten Staaten mit hohen Leistungsbilanzdefiziten (grob: mit mehr Importen als Exporten) wie Brasilien, Indien, Indonesien, Südafrika und die Türkei.
Doch das sei erst die erste Welle gewesen, warnt der berühmte Schweizer Vermögensverwalter Felix Zulauf. Ein Jahrzehnt struktureller Zuflüsse sei nicht in ein oder zwei Quartalen abzuarbeiten. Die nächste Welle werde auch exportstärkere Länder erfassen, und zwar solche, die unter einem starken Abfluss von Kapital ins Ausland leiden. Dazu rechnet Zulauf Mexiko, Thailand, Malaysia und China.
Letzte Geldspritze kommt im Herbst
Die Einsicht, dass ihre Geldpolitik eher gefährliche Vermögenspreisblasen aufpumpt, als der Wirtschaft zu helfen, hält jetzt offenbar bei der Fed Einzug: Noch im Januar will sie ihr monatliches Ankaufprogramm von derzeit 85 Milliarden Dollar um zehn Milliarden Dollar pro Monat drosseln. Sollte die neue Fed-Chefin Janet Yellen diesen Fahrplan einhalten, kommt die letzte Geldspritze im Herbst.
Vermögensverwalter Zulauf sieht die Türkei als Blaupause für Volkswirtschaften, deren Finanzierung zu stark von kurzfristigem Auslandsgeld abhängig ist. Er rechnet vor: Der Finanzierungsbedarf der Türkei durch das Ausland betrage etwa 217 Milliarden Dollar: 60 Milliarden Dollar Leistungsbilanzdefizit, 125 Milliarden Dollar Refinanzierungsbedarf von kurzfristigen Auslandsschulden und 32 Milliarden Dollar für fällige mittel- und langfristige Auslandsschulden. Nur verfüge die Türkei lediglich über 40 Milliarden Dollar Devisenreserven. Weil die Regierung der Zentralbank untersagt, die Zinsen anzuheben, ist die Währung immer weniger gefragt. Die türkische Lira ist auf den tiefsten Stand seit 2005 gefallen. Morgan Stanley hat die Wachstumsprognose für die Türkei zurückgeschraubt, von 3,9 auf 2,9 Prozent.
Auch Asien ist krisenanfällig
Wegen eines hohen Leistungsbilanzdefizits gilt auch Indonesien als krisenanfällig. Die Devisenreserven der größten Ökonomie Südostasiens bewegen sich seit Monaten unter der kritischen Marke von 100 Milliarden Dollar. Im November scheiterte eine Emission von Staatsanleihen. Um eine zehnjährige Anleihe über zwei Milliarden Dollar loszubekommen, musste die Regierung in der zweiten Januarwoche 5,95 Prozent Zinsen bieten – fast doppelt so viel wie im April 2013.
Ein weiteres Problem für Asiens Volkswirtschaften ist die von der japanischen Regierung mit allen Mitteln verfolgte Abwertung des Yen. Tokios Währungsdumping schafft Wettbewerbsnachteile bei diversen Exportprodukten. Politische Spannungen belasten die Schwellenländer zusätzlich: Die Türkei wird durch einen gigantischen Korruptionsskandal erschüttert, während in Thailand Touristen und Investoren von Unruhen abgeschreckt werden. Die Landeswährung Baht steuert bereits auf ein Vier-Jahres-Tief zu.
Die Fed sorgt für einen Kreditboom
Auch die Lage in Brasilien spitzt sich zu. 2011 strömten noch netto 65,3 Milliarden Dollar in das Land. Die Landeswährung Real erstarkte zum Dollar auf 1,50 Reais je Dollar. 2013 drehte die Bilanz ins Defizit: Unter dem Strich flossen 12,3 Milliarden Dollar ab. Der Real sackte zwischenzeitlich auf 2,45 Reais pro Dollar ab. Das war der erste jährliche Kapitalabfluss seit dem Krisenjahr 2008, in dem 983 Millionen Dollar abflossen. Allein im Dezember verlor Brasilien 8,8 Milliarden Dollar. Brasiliens Regierung hatte sich in den vergangenen Jahren an der Seite Chinas vehement gegen die ultralockere Geldpolitik der Fed gestemmt und vor deren Spätfolgen gewarnt.
Mit ihrem Dauer-Niedrigzinsversprechen und Quantitative Easing trieb die Fed Investoren in die globale Jagd nach Rendite und sorgte für einen Kreditboom. Seit 2009 schwappten über 4000 Milliarden Dollar in die Schwellenländer. Ihre Auslandsverschuldung wird nach Schätzung des Institute of International Finance (IIF) in diesem Jahr auf rund 7000 Milliarden Dollar wachsen – eine Verdopplung gegenüber 2006. Knapp 2000 Milliarden Dollar davon sind Schulden, die kurzfristig refinanziert werden müssten. Das wird bei einer rasch sinkenden Kreditwürdigkeit zu einem immer größeren Problem.
Ein Wirtschaftsmodell an seinen Grenzen
Ein zusätzliches und in seiner Dimension unterschätztes Risiko birgt die sich immer stärker abzeichnende Wachstumsschwäche in China. Die Chinese Academy of Sciences, ein dem Staatsrat unterstelltes Forschungsinstitut, beziffert die Gesamtverschuldung von Staat, Unternehmen und Privathaushalten in China inzwischen mit 215 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die Quote liegt damit fast doppelt so hoch wie 2008. Das chinesische Kreditvolumen legte allein im vergangenen Jahr um mehr als 20 Prozent zu. Es wuchs damit mehr als doppelt so stark wie die chinesische Wirtschaft, die nach offiziellen Statistiken um 7,6 Prozent zugelegt haben soll – das niedrigste ausgewiesene Wachstum seit 14 Jahren. Die Lücke zwischen Kredit- und Wirtschaftswachstum klafft immer weiter auseinander. Das schuldenfinanzierte, auf Exporte gestützte Wirtschaftsmodell sowie eines der größten Konjunkturprogramme in der Wirtschaftsgeschichte stoßen allmählich an ihre Grenzen. Ein Yuan zusätzlicher Schulden sorgt nur noch für 0,4 Yuan Wirtschaftswachstum. Das haben Analysten der US-Vermögensverwaltung Sanford C. Bernstein & Co ermittelt. Vor 2009 waren es noch 0,8 Yuan.
Die angekündigten Reformen im Finanzsektor werden das chinesische Wirtschaftswachstum zusätzlich belasten. Vor allem das wild wuchernde Schattenbankensystem soll zurückgestutzt werden. Durch die immer laxere Kreditvergabe hat sich die chinesische Geldmenge seit Anfang 2007 mehr als verdreifacht. Die Qualität der vergebenen Kredite wird immer schwächer, entsprechend steigt die Zinsbelastung sprunghaft. 2008 beliefen sich die Zinszahlungen noch auf sieben Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung, 2013 dürften es laut Ratingagentur Fitch rund 13 Prozent gewesen sein. Bis Ende 2017 soll die Quote auf etwa 22 Prozent steigen.
Krise in China scheint unabwendbar
Der Ausbruch einer Kreditkrise in China scheint vor diesem Hintergrund fast unabwendbar, einzig der Zeitpunkt steht noch nicht fest. Allein die ausfallgefährdeten Kredite aus der Expansion der vergangenen vier Jahre beziffert Goldman Sachs auf 3000 Milliarden Dollar, etwa 36 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung.
Als alternativer Gradmesser für den Zustand der chinesischen Wirtschaft bietet sich der Vermietungsstand von Büroflächen im Shanghai Tower an. In dem 2,4 Milliarden Dollar teuren, nach Fertigstellung im nächsten Jahr mit 632 Metern zweithöchsten Gebäude der Welt konnte bisher von insgesamt 220 000 Quadratmeter Bürofläche noch kein einziger Quadratmeter vermietet werden. Nach 13 Boomjahren ist die Luft auf dem Immobilienmarkt des Landes dünn geworden.
Wohnungen sind kaum bezahlbar
Das Volumen verkaufter Immobilien geht zurück, laut Immobilienmarktexperte Jinsong Du von Credit Suisse allein 2013 um elf Prozent. Die börsennotierten chinesischen Immobiliengesellschaften sitzen nach Angaben des Londoner Researchhauses Capital Economics inzwischen auf einem rekordhohen Bestand von mehr als drei Millionen unverkauften Wohnungen, eine Million mehr als noch vor zwei Jahren. Wohnungen sind kaum noch bezahlbar. Für eine 100-Quadratmeter-Wohnung muss ein Durchschnittsverdiener inzwischen im Schnitt 30 Jahresgehälter auf den Tisch blättern. Trotzdem steigen die Quadratmeterpreise weiter, in den Ballungszentren Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen 2013 um etwa 25 Prozent.
Gut 40 Prozent des chinesischen Stahlverbrauchs gehen in den Hausbau. Der chinesische Immobilienmarkt ist damit eine entscheidende Größe für die Nachfrage nach Stahl, Erz und Schiffstransportkapazität. Der Baltic Dry Index, der die Schiffraten für den Transport von Massenfrachtgütern misst, ist seit Mitte Dezember um 40 Prozent eingebrochen. Besorgt registrieren wird man das vor allem bei den wichtigsten Rohstofflieferanten Chinas. Zu ihnen zählen Australien, Brasilien, Chile, Kanada, Russland und Südafrika. Weniger Rohstoffnachfrage bedeutete Abwertungsdruck auf deren Währungen.
Anleger sollten einen Bogen um Schwellenländer machen
Auch in Indien mehren sich die Anzeichen einer Immobilien- und Bankenkrise. Die Immobilienpreise haben sich im landesweiten Durchschnitt binnen sechs Jahren annähernd verdoppelt. Mit Vermietungen lassen sich inzwischen nur noch Renditen zwischen ein und drei Prozent erzielen, bei fast zehn Prozent Inflation im Land. Der Verkauf stockt, der Immobilienbestand von Projektentwicklern liegt um das Drei- bis Vierfache über dem langjährigen Mittel. Vor allem die Staatsbanken sind krisenanfällig. Auf sie entfallen drei Viertel aller und knapp 90 Prozent der faulen Kredite, wie aus den Statistiken der Reserve Bank of India hervorgeht. Bankaktien haben sich an der Börse Mumbay gegen den allgemeinen Trend – der Aktienindex Sensex legt auf Jahressicht in Rupie rund sechs Prozent zu – nach unten abgesetzt.
Währungen, Anleihen und Aktien der Schwellenländer haben die Unsicherheit im Hinblick auf die zukünftige US-Geldpolitik bereits zu spüren bekommen, allerdings mit unterschiedlicher Härte. Eine beschleunigte Abwertung des japanischen Yen und das erhöhte Risiko einer wirtschaftlichen Abschwächung in China dürften aber erst im Ansatz berücksichtigt sein.
Anleger sind gut beraten, einen Bogen um die Schwellenländer zu machen. Spekulanten können auf eine Verschärfung der Krise wetten (siehe Chartgalerie Seite 1). In Sachen Schwellenländer Goldman Sachs zu folgen dürfte sich auch diesmal auszahlen.