„Bin ich schon drin?“, fragte Tennis-Promi Boris Becker in einem beliebten Werbespot um die Jahrtausendwende: Obwohl unbeholfen, weil in technischen Dingen ahnungslos, gelang dem Leistungssportler damals der Sprung ins Internet und die Nutzung von E-Mail mit Hilfe von America Online, kurz AOL – dem mit 30 Millionen Kunden damals größten Internet-Serviceanbieter weltweit. Dann kam es zur verhängnisvollen Fusion mit dem Medienkonzern Time Warner, AOL verpasste den Anschluss an das Hochgeschwindigkeitsinternet und der einstige Dotcom-Superstar der Börse siechte lange Jahre dahin.
AOL-Aktie klettert steil nach oben
„Bin ich schon drin?“, fragt sich heute wohl eher mancher Anleger, wenn er sieht, was für einen fulminanten Kursanstieg die Aktie in den vergangenen Monaten hingelegt hat. Nachdem die AOL-Aktie im Zuge eines krisenbedingten Börsentiefs im August 2011 einen neuen Tiefpunkt bei 10,06 Dollar markiert hatte, kletterte der Kurs wieder steil nach oben. Als AOL am Ostermontag nun den milliardenschweren Verkauf von Patenten an den IT-Giganten Microsoft bekannt gab, schoss der AOL-Kurs fast senkrecht in die Höhe - von 18,42 Dollar auf inzwischen mehr als 26 Dollar. Innerhalb von acht Monaten ist das ein Kursplus von 160 Prozent. Der Börsenwert von AOL stieg an nur einem Tag von 800 Millionen Dollar auf nun 2,5 Milliarden Dollar. Ist das die Rückkehr der Internet-Ikone AOL oder nur ein schnell verpuffendes Börsenfeuerwerk?
Freude an der Börse dank Microsoft
Das Geschäft mit Microsoft kann sich in der Tat sehen lassen: AOL kündigte gestern an, mehr als 800 Schutzrechte und damit verbundene Anwendungen an Microsoft für mehr als eine Milliarde Dollar in bar abzutreten. Medienberichten zufolge hatten Patentanwälte den Wert des Rechtepakets eher in der Größenordnung von 300 Millionen Dollar vermutet. AOL hat darüber hinaus noch 300 weitere Patente, für die Microsoft nur eine Lizenz erhält. „Das ist ein wertvolles Portfolio, das wir schon seit Jahren im Blick haben“, sagte Microsoft-Chefjustiziar Brad Smith. Die Nachricht von dem Geschäft sorgte an der Börse für Begeisterung, die AOL-Aktie sprang sofort um fast 50 Prozent ins Plus. Besonders gut kommt bei den Investoren an, dass der Internetkonzern den Gewinn aus dem Patentgeschäft zum überwiegenden Teil als Sonderdividende an seine Aktionäre ausschütten möchte.
Der Abstieg von AOL
Treue AOL-Aktionäre hatten in den vergangenen Jahren allerdings wahrlich nichts zu lachen: Die auf dem Höhepunkt des Dotcom-Börsenfiebers geschlossene Elefantenhochzeit mit dem Medienkonzern Time Warner erwies sich als riesiges Milliardengrab. Der Zusammenschluss hatte seinerzeit 182 Milliarden Dollar gekostet. 2009 trennten sich die ungleichen Partner wieder, seitdem schreibt AOL anhaltend Verluste. Das Kerngeschäft ist noch immer der klassische Internetzugang. Allerdings sinken die Kundenzahlen schon seit 2002, im Geschäft mit Online-Werbung verliert AOL den Anschluss an die übermächtige Konkurrenz von Google, Facebook & Co. 2007 zog sich AOL mit seinen Angeboten sogar aus dem deutschen Markt ganz zurück. Da war es dann schon eine gute Nachricht, als AOL-Chef Tim Armstrong Anfang Februar mitteilte, der prozentuale Kundenschwund wäre im abgelaufenen Quartal der geringste seit fünf Jahren.
Alle Therapien erfolglos
AOL sucht bereits seit vielen Jahren nach einem neuen Erfolgsrezept und einem Heilmittel für das schrumpfende Geschäft mit Internetzugängen – allerdings bislang ohne durchschlagenden Fortschritt. 2008 übernahm AOL den Facebook-Konkurrenten Bebo für 850 Millionen Dollar – und hoffte auf den Social-Media-Boom. Nur zwei Jahre später verkaufte AOL das Unternehmen wieder – für nur noch zehn Millionen Dollar.
Um nicht noch mehr Kunden im Zugangsgeschäft zu verlieren, konzentrierte sich AOL zuletzt auf den Aufbau eines attraktiven inhaltlichen Angebots im Netz. Dazu übernahm AOL etwa die prämierte US-Onlinezeitung „Huffington Post“ für 315 Millionen Dollar, kaufte das lokale Nachrichtenportal Patch sowie den beliebten Technologie-Blog TechCrunch. Schon mit Time Warner wollte AOL sein inhaltliches Angebot stark verbessern. Die Kunden holten sich ihren Internetanschluss trotzdem von der Konkurrenz.
Die Anzahl der Kunden sinkt weiter
Kooperationen sollen die AOL-Misere beenden: Bereits seit 2011 versucht sich der Konzern zusammen mit Yahoo und Microsoft in einer Werbeallianz. Für die Expansion der „Huffington Post“ suchte AOL namhafte Kooperationspartner in den jeweiligen Ländern: „El País“ in Spanien, „La Republicca in Italien, „Le Monde“ in Frankreich. In Deutschland sollen die Verhandlungen noch laufen. Aber obwohl sich die Online-Zeitung gut entwickelt und ihre Nutzerzahlen steigen, stagnieren die Kundenzahlen bei der Mutter AOL. Zudem machten immer wieder Meldungen die Runde, wichtige Köpfe hätten den Internetkonzern enttäuscht oder im Streit verlassen.
Bleibt es beim kurzzeitigem Geldsegen?
Der Verkauf der Patente ist daher zunächst nur ein frischer Geldsegen für die Aktionäre. Dem Unternehmen hilft das Geschäft jedoch auf Dauer nicht weiter. Stattdessen werden Patentrechte und -einnahmen abgegeben, der Gewinn daraus nicht für Investitionen verwendet. Derzeit bekriegen sich die Technologieschwergewichte vor allem im boomenden mobilen Internetgeschäft. Unzählige Gerichte auch in Deutschland müssen sich mit gegenseitigen Vorwürfen des Ideenklaus befassen. Beste Abwehrwaffe ist ein umfangreicher Katalog an Patenten. Deshalb kauft der Internetkonzern Google auch den verlustreichen Handyhersteller Motorola Mobility für 12,5 Milliarden Dollar. Motorola und AOL sind Vorreiter in ihren Branchen und besitzen entsprechend viele grundlegende Patente. Die Transaktion der AOL-Patente an Microsoft soll bis Ende 2012 abgeschlossen sein. Sollte sie doch noch scheitern, zahlt Microsoft rund 210 Millionen Dollar an Entschädigung. Zu der Patentauktion wurde AOL vom Großaktionär Starboard Value, einem Hedgefonds, gedrängt.
Für Aktionäre ist der Einstieg in AOL-Aktie riskant. Zum einen ist das Papier bereits gut gelaufen, zum anderen drohen erneute Rückschläge, weil der rasche Kursanstieg nach einer Korrektur schreit und die Sanierungsmaßnahmen noch keinen durchschlagenden Erfolg gezeitigt haben. Die Perspektiven sind für AOL-Aktionäre längst nicht so gut wie für Microsoft-Investoren: Der Software-Riese aus Redmond hat sich mit einem Paket von Patenten für die zunehmenden Streitigkeiten mit Wettbewerbern gerüstet, die Gewinnmarge im Kerngeschäft mit Betriebssystemen und Bürosoftware ist enorm. AOL hingegen ist seine Hauptprobleme noch immer nicht los, schreibt immer noch rote Zahlen im operativen Geschäft und gilt selbst als möglicher Übernahmekandidat.
Aktionäre sollten also tun, was auch dem Hedgefonds Starboard Value wichtig war: Gewinne rechtzeitig mitnehmen – solange es noch geht.