Als die WirtschaftsWoche vor 17 Monaten Aktien von Thyssenkrupp empfohlen hatte (Ausgabe 16/2015), rief wenige Tage danach ein Hedgefondsmanager in der Redaktion an. Er sei gerade dabei, eine größere Position in Thyssen aufzubauen und wolle sich über die Aussichten informieren. Sein Kaufargument: Nirgends unter großen deutschen Aktien gebe es so viel klassischen Industrieumsatz für so wenig Geld wie bei Stahlunternehmen.
Ein Argument, das auch heute zählt, nachdem Stahlaktien durch Fusionspläne erneut ins Visier risikofreudiger Anleger geraten. Geändert hat sich an der Gesamtsituation wenig: Die Börse bewertet bei Thyssenkrupp jeden Euro des für dieses Jahr erwarteten Umsatzes mit nur 31 Cent. Die Branchenkonkurrenten ArcelorMittal und Tata Steel kommen auf ähnliche Werte. Etwas teurer ist Voestalpine, die wegen ihrer Konzentration auf Spezialstahl profitabler ist. Salzgitter dagegen wird mit nur 20 Cent pro Umsatz-Euro gehandelt. Zum Vergleich: Für einen erfolgreichen Industriekonzern wie Siemens legen Anleger das 1,1-Fache der Erlöse auf den Tisch. Sind Stahlaktien günstige Kaufkandidaten für antizyklische Anleger?
Gemessen an der Gewinnsituation, kann das kaum bejaht werden. Bei Salzgitter, ArcelorMittal oder Thyssenkrupp zahlen Anleger im Schnitt den 30-fachen Jahresgewinn. Das ist sehr teuer. Siemens-Aktien etwa gibt es schon für eine 15-fache Gewinnbewertung.
Wer allein den Gewinnmaßstab ansetzt, für den kommt derzeit vor allem Voestalpine infrage. Obwohl die Österreicher unter rückläufigen Geschäften mit der Öl- und Gasindustrie leiden, konnten sie im Frühjahrsquartal ihre Ebit-Marge (Gewinn vor Zinsen und Steuern im Vergleich zum Umsatz) bei sechs Prozent halten; ein Topwert innerhalb der Branche. Eine mögliche Erholung der Ölindustrie käme Voestalpine zugute. Dazu wird das Autozulieferergeschäft durch einen neuen Großauftrag über 500 Millionen Dollar beflügelt. Im Frühjahrsquartal erzielte allein diese Sparte ein Drittel der gesamten Gewinne vor Steuern und Zinsen.
Situation bei Tata ist angespannt
Lukrative Geschäftssparten wie Automotive oder Aufzüge sind auch die Triebkraft, die Thyssenkrupp interessant macht. Seit drei Jahren wettet der schwedische Finanzinvestor Cevian (zunächst mit 5,2 Prozent, heute hat er 15,1 Prozent von Thyssenkrupp) darauf, dass die wertvollen Einzelteile des Industriekonzerns den Aktienkurs steigen lassen. Durch die Gespräche über den Zusammenschluss mit Stahlwerken der indischen Tata Steel und Gedankenspiele über die Aufspaltung von Thyssenkrupp wird diese Spekulation befeuert. Allein um eine Umsatzbewertung wie Voest zu erreichen, müssten Thyssen-Aktien um 60 Prozent steigen.
Schon kräftig angesprungen sind Aktien von Tata Steel. Anleger setzen bei Tata neben der Erholung des weltweiten Stahlmarkts auf einen Rückzug aus der verlustreichen Produktion in Großbritannien. Ob Tata deshalb die hohen Erwartungen der Analysten erfüllen kann und nach umgerechnet 422 Millionen Euro Verlust in der Saison 2015/16 nun im laufenden Geschäftsjahr (bis 31. März 2017) in die Gewinnzone kommt, ist zweifelhaft. Mit umgerechnet 9,9 Milliarden Euro Nettoschulden bei nur 4,3 Milliarden Euro Eigenkapital ist die finanzielle Situation der Inder angespannt.
Stahl in der Krise: Kommt die große Fusion?
Weltweit ist Stahl im Überfluss vorhanden. Das drückt auf die Preise. In Europa kämpft die Branche schon seit der Finanzkrise 2008 und dem Platzen der Immobilienblase in vielen südlichen Ländern mit Überkapazitäten. Denn seitdem werden viele Anlagen gerade in Südeuropa nicht mehr gebraucht.
Dramatisch verschärft hat sich die Lage, seitdem in China das Wirtschaftswachstum schwächelt. Das Land ist in den vergangenen 15 Jahren zum mit Abstand größten Stahlhersteller der Welt aufgestiegen. Doch braucht es einen großen Teil seiner Produktion nicht mehr und versucht, diesen auf dem Weltmarkt loszuwerden. Europäische Hersteller sehen darin Preisdumping - denn China-Stahl könne in Europa auch wegen der hohen Transportkosten nicht kostendeckend angeboten werden. Zuletzt entspannte sich die Lage ein wenig, nachdem die EU erste Schutzzölle eingeführt hat.
Absprachen innerhalb der Branche zur Drosselung der Produktion sind aus kartellrechtlichen Gründen tabu. Deshalb läuft ein gnadenloser Wettbewerb in der Hoffnung, dass den Schwächsten irgendwann die Luft ausgeht und sie aufgeben müssen. Doch das wird regelmäßig von der Politik verhindert. Denn Stahlwerke befinden sich oft in strukturschwachen Gebieten. Deshalb tut sich die Politik schwer, solche Anlagen sterben zu lassen. Angesichts der aktuellen Lage hat der Präsident des Weltstahlverbands, Wolfgang Eder, in dieser Woche bereits eine Unterstützung der öffentlichen Hand bei möglichen Schließungen oder bei einem Kapazitätsabbau in der europäischen Stahlbranche gefordert.
Die meisten Unternehmen fahren zweigleisig. Zum einen versuchen sie, so gut es geht Kosten zu sparen. Bei Thyssenkrupp haben sie sich etwa im April 2016 auf eine 31-Stunden-Woche verständigt, um einen umfangreichen Stellenabbau zu vermeiden. Der zweitgrößte deutsche Hersteller Salzgitter hat in den vergangenen Jahren rund 1500 Stellen abgebaut. Zum anderen versuchen die Unternehmen, sich mit Innovationen von Massenprodukten aus dem Ausland abzuheben.
Ende vergangenen Jahres zählte die Branche noch gut 86.000 Beschäftigte und damit etwa 1000 weniger als 2014. Seit 2013 geht die Beschäftigtenzahl in der Branche kontinuierlich zurück - allerdings ohne größere Einschnitte. Einen massiven Personalabbau hatte es zuletzt Anfang der 1990er Jahre gegeben. Beim Branchenführer Thyssenkrupp gibt es für die Stahl-Beschäftigten zudem eine Vereinbarung über den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2021.
In der Branche hoffen das viele. Wenn sich zwei zusammenschließen, könnten Kosten gemeinsam besser gesenkt werden. Allerdings ist ein Durchregieren in der Stahlbranche, die von besonders starken Mitbestimmungsrechten der Arbeiter geprägt ist, nicht möglich. Und dann ist die Frage, ob mögliche Produktionskürzungen nach einer solchen Fusion überhaupt etwas bringen, wenn es anderswo keine Einschnitte gibt. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) fasst es so zusammen: Er sei kein Freund von Zusammenschlüssen in Deutschland, weil dann hierzulande vermutlich Arbeitsplätze wegfielen, obwohl die ineffizienten Stahlwerke im Ausland stünden.
Zu einer „Deutschen Stahl AG“ aus Thyssenkrupp und Salzgitter, die auch Gabriel ablehnt, dürfte es schon allein wegen Kartellbedenken nicht kommen. Allerdings wird seit Jahren die nächste Konsolidierungswelle in der Stahlbranche erwartet. „Jeder spricht mit jedem“, heißt es in der Branche, doch Handfestes gibt es bislang nicht. Im Hintergrund machen Investoren großen Druck. Thyssenkrupp muss sich seit Jahren für ein Festhalten am schwankungsanfälligen Stahlgeschäft rechtfertigen. Eine Fusion mit den niederländischen Tata-Aktivitäten samt eines Versuchs, das Geschäft ganz abzuspalten, klingt daher keinesfalls abwegig. Ohne Zustimmung der Arbeiter wird das aber kaum gelingen.
Geht es nach den Kennzahlen, ist Salzgitter erste Wahl. Allerdings brauchen Anleger Geduld. Im ersten Halbjahr sind die Niedersachsen mit nur noch 9,3 Millionen Euro Nettogewinn knapp an roten Zahlen vorbeigeschrammt. Der Auftragseingang (4,8 Milliarden Euro, minus 2,2 Prozent) ist zwar einigermaßen stabil, signalisiert aber keine schnelle Erholung. Commerzbank-Analyst Ingo Martin Schachel warnt, dass die jüngsten Preiserhöhungen im Stahlmarkt nur vorübergehend sein könnten. Hedgefonds der Schweizer UBS haben sogar eine große Spekulation auf fallende Salzgitter-Kurse angezettelt.
Gut möglich, dass Salzgitter-Aktien nach ihrer 50-Prozent-Kursrally seit Jahresanfang nun wieder etwas nachgeben. Mit 32 Prozent Eigenkapitalquote in der Bilanz und 183 Millionen Euro Netto-Cash haben die Niedersachsen genug Reserven, die Stahlkrise zu überstehen. Dazu kommt das 25-Prozent-Paket am Kupferproduzenten Aurubis, das aktuell 570 Millionen Euro wert ist.