Börsenpsychologie Die kalkulierte Unvernunft

Mit seiner spektakulären „Ökonomie des Spieltischs“ sägt der Basler Soziologe Urs Stäheli am Stuhl von Max Weber. Seine Theorie der Börsenspekulation entlarvt die ökonomische Rationalität des Marktes als Fiktion – und erklärt das Glücksspiel zur Bedingung seines Funktionierens. WirtschaftsWoche-Chefreporter Dieter Schnaas hat mit Urs Stäheli gesprochen.

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WirtschaftsWoche: Herr Stäheli, sieben Jahre nach dem Boom and Bust der New Economy sind die Kapitalmärkte wieder Spektakel: Der Dax steigt und stürzt, in China wetten 100 Millionen Kleinanleger auf steigende Kurse. Gibt es ihn also doch, den Kasino-Kapitalismus? Stäheli: Und wie es ihn gibt. Noch dazu in seiner wohlbekannten Form: als Glücksspielwiese und Wohlstandswürfelei – nicht zuletzt der kleinen Leute. So verstanden, entwickelt der Begriff überhaupt erst seine eminente Bedeutung: Er thematisiert, dass immer auch ein spielerisches Moment in der Finanzökonomie enthalten ist. Das Problem ist, dass „Kasino-Kapitalismus“ heute vor allem als zensorischer Begriff verwendet wird: Seine Benutzer wollen mit ihm die Gefährlichkeit der Spekulation bezeichnen. Leider gerät dabei das Entscheidende aus dem Blick, nämlich dass das Spiel als populäres Element der Börsenwirtschaft ihr notwendiger Bestandteil ist. Das Spielerische ist keine Pathologie der Finanzökonomie, sondern eine Bedingung ihres Funktionierens. Sie wollen die Protestantismus-These von Max Weber auf den Kopf stellen und durch eine Ökonomie des Spieltischs ergänzen? Warum denn nicht? Die klassische These einer asketischen Lebensführung erzählt doch allenfalls die halbe Wirtschaftsgeschichte. Die Entstehung der Finanzmärkte kann nicht mit Max Weber, sondern nur aus dem dionysischen Geist des Spieltischs heraus erklärt werden, aus der Freude an der Selbstreferenz von Geld. Wenn wir verstehen wollen, wie moderne Ökonomie funktioniert, ist es wichtig, das irrationale, rauschhafte Element der Kapitalmärkte mit zu erfassen. Wir müssen uns das Wechselspiel anschauen zwischen der Leidenschaft in der Finanzökonomie einerseits und ihrer Rationalisierung und Disziplinierung andererseits. Lässt sich der Begriff des „Kasino-Kapitalismus“ in diesem Sinne fruchtbar machen für die Beschreibung der Kapitalmärkte? Ja – aber nur, wenn man mit ihm auf die prekäre Grenze zwischen Glücksspiel und Spekulation hinweist, die für die Finanzökonomie seit jeher konstitutiv ist – und die sie immer wieder neu vermessen muss. „Kasino-Kapitalismus“, richtig verstanden, bezeichnet einen Konflikt, den die Börse selbst produziert: Sie wird einerseits durch Spekulation populär – und andererseits durch sie als Institution der ökonomischen Vernunft bedroht. Seine widerständige Kraft entfaltet der „Kasino-Kapitalismus“ nicht als fundamentaloppositioneller Kampfbegriff, sondern als Kritik der Finanzökonomie eo ipso am Übergewicht des Spekulativen in ihr. Wenn es die Finanzökonomie selbst ist, die die Balance zwischen Spiel und Vernunft an der Börse herstellt, liegt der Schluss nahe, die Spekulation sei aus dem Glücksspiel entstanden. Genauso ist es ja auch. Die Spekulation wurzelt im Glücksspiel – und eben das ist ihre Kalamität: Einerseits bezieht sie ihre Anziehungskraft aus den Momenten des Zufalls und Glücks; sie will attraktiv sein und möglichst viele Teilnehmer für sich gewinnen. Andererseits droht sie ihre ökonomische Integrität, ihren guten Ruf als Barometer, ja Quintessenz der Wirtschaft in eben dem Maße zu verlieren, wie sie an Popularität gewinnt. Es ist das unauflösbare Paradox der Börsenspekulation, dass sie gleichzeitig ein Maximum an Kontingenz und Vernunft erzeugen muss, um sich als populäre Institution auf Dauer zu stellen. Wie ist sie in dieses Dilemma geraten? Als die Spekulation zu Beginn des 19. Jahrhunderts anfing, sich als Teilbereich der Wirtschaft zu etablieren, musste sie sich vom Glücksspiel scharf abgrenzen – weil sie aus ihm hervor ging. Sie müssen wissen, dass die Spekulation im 17. und 18. Jahrhundert noch an den gleichen Orten wie das Glücksspiel stattfand: in Caféhäusern, auf Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen. In der Figur des curbstone traders, des Straßenrandhändlers, ist der spekulative Spieler dieser Zeit sinnbildlich verewigt: Er bezeichnet eine Person, die zugleich Händler war und Investor, Spekulant und Spieler. Der curbstone trader war eine im Wortsinn zwielichtige Figur. Damals gab es noch keine Börsengebäude als offizielle Orte der Spekulation, keine ausdifferenzierten Rollen zwischen Händler und Maklern, keine zentrale Instanz, die Aktienkurse festgelegt und überwacht hätte. Spekulation fand damals lokal, gelegentlich und auf der Straße statt: als Variation des Glücksspiels.

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