Soziologe Sighard Neckel Die strukturierte Verantwortungslosigkeit der Banken

Der Soziologe Sighard Neckel über den Blindflug der Banken, den fatalen Machtverzicht der Politik und den Unwillen des Finanzsektors, Regeln zu akzeptieren.

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Sighard Neckel, Professor für Soziologie an der Universität Wien

WirtschaftsWoche: Herr Neckel, der moderne Mensch fügt sich täglich am Flughafen oder im Straßenverkehr einer Fülle von Regeln. Warum setzt er sich ausgerechnet an den Finanzmärkten dem Risiko aus – und scheut deren Regulierung?

Sighard Neckel: Weil die moderne Finanzwirtschaft auf der Berechnung und Bewirtschaftung des Risikos selbst beruht, das heißt: Sie hat – im Unterschied zum Auto- oder Flugverkehr, wo das Risiko als Nebenfolge der Mobilität gleichsam mitläuft – mit dem Risiko an sich zu tun. Es geht ihr darum, Risiken einzugehen, um bestimmte Renditen zu erwirtschaften. In den vergangenen 15 Jahren ist die Berechnung des Risikos auf die Spitze getrieben worden. Die Finanzwirtschaft hat strukturierte Produkte erfunden, mathematische Modelle – und Zweckgesellschaften, in denen die größten Risiken verschwanden.

Glaubt die Finanzwirtschaft, sie könne Risiken durch Tricks und Rechenmodelle beherrschen?

Sie hat sich jedenfalls der Illusion hingegeben, sie verfüge über genügend wissenschaftliche und institutionelle Instrumente, hohe Risiken kalkulierbar zu machen. Selbst die Wirtschaftswissenschaft ist dieser Sichtweise gefolgt und hat mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass die modernen Finanzmärkte in der Lage wären, die Komplexität aller eingehenden Informationen so effektiv zu verarbeiten, dass jede Kapitalanlage von sich aus den richtigen Preis erzielt. Im Oktober 2008 sind daher nicht nur die Finanzmärkte zusammengebrochen. Sondern auch die Weltbilder von der „Effizienz der Märkte“ und der „unsichtbaren Hand“.

Demnach war die Finanzwirtschaft nicht verantwortungslos, sondern selbstblind?

Die Mathematisierung der Finanzökonomie hat dazu geführt, dass bei den Banken kaum jemand mehr die eigenen Produkte verstanden hat. Das Problem war, dass sich das niemand eingestehen wollte – und dass in den Banken ein Meinungsmoratorium herrschte, eine Art Schweigekartell. Eben weil man sein Unverständnis nicht artikulieren wollte, hat sich niemand getraut, die Konstruktion der Finanzprodukte in Zweifel zu ziehen. Es hat eine Atmosphäre geherrscht, in der man sich finanzmathematisch in Sicherheit wähnte. Auf der anderen Seite hatte man den Eindruck, man müsse beim Run auf hohe Renditen unbedingt dabei sein und sich von Zweifeln nicht aufhalten lassen. An diesem Punkt schlug der Glaube an die mathematische Vernunft in pure Irrationalität um...

...und eine über jeden Selbstzweifel erhabene Finanzwirtschaft steuerte im Modus „Autopilot“ auf die Felswand zu?

Richtig, das ist am Ende eine Art Blindflug gewesen, eine Situation, in der man sagte: Augen zu und durch – es wird schon gut gehen. Wie auch anders? Die Banken hatten das Steuer ja aus der Hand gegeben und sich bei der Berechnung der Risiken zum Beispiel auf Atomphysiker verlassen, weil man glaubte, diese seien besser als Mathematiker in der Lage, Berechnungen in Modelle zu verwandeln. Das muss man sich mal vorstellen: Man hat Atomphysiker in die Banken geholt, um sich mit einer naturwissenschaftlichen Expertise auszustatten, die keiner mehr in die Bankwelt zurückübersetzen konnte. Das heißt: Bankexperten haben sich auf Physikexperten verlassen, die ihrerseits den Eindruck hatten, dass die Bankexperten nichts von dem, was sie machten, tatsächlich verstehen.

Und doch hat die Finanzwirtschaft spätestens seit 2006 geahnt, was auf sie zukam. Sie ist nicht nur betriebsblind gegenüber dem Risiko gewesen, wie es die Theorie des „Schwarzen Schwan“ suggeriert. Sie hat Risiken auch ganz bewusst versteckt.

Eben deshalb ist der „Schwarze Schwan“ zurzeit das Lieblingsbuch in der Welt der Banker: Es lenkt von der strukturierten Verantwortungslosigkeit ab, die sich die Banken haben zuschulden kommen lassen. Stattdessen verschafft man sich nun auf vermeintlich seriöse Art eine Art Freibrief für das eigene (Nicht-)Handeln. Man suggeriert sich, dass man sich der naturgesetzlichen Gewalt der „Katastrophe“ an den Finanzmärkten nicht habe entziehen können – und etwas erlebt habe, was im Grunde ein allgemeines Gesetz ist, das an einem selber nur vollzogen wurde. Hier findet sozusagen noch posthum eine Flucht aus der Verantwortung statt.

Die Wirtschaftswissenschaften haben die Deregulierung der Finanzmärkte mehrheitlich sehr wohlwollend begleitet. Warum gab es nur vereinzelt kritische Stimmen?

Weil die kritischen Stimmen margina-lisiert wurden. Und weil es einen -do-minierenden Zweig der Wirtschaftswissenschaften gibt, der dem Selbstverständnis der modernen Finanzwelt folgt. Diese Schulrichtung glaubt, der Ausbau der Ökonomie als Modellwissenschaft sei die Gewähr dafür, dass man wirtschaftliche Prozesse vollkommen rationalisieren könne – und neigt dazu, gesellschaftlich-institutionelle Faktoren auszublenden. Erst jetzt, nach dem Crash erinnert man sich wieder an die Verhaltensökonomie, die das rationale Theorem der „unsichtbaren Hand“ durch Einsichten in die Irrationalitäten wirtschaftlichen Handelns ergänzt. Was die Ökonomie aber offenbar nicht akzeptieren kann, ist die Tatsache, dass menschliches Verhalten kontingent ist, dass es einen Raum menschlichen Handelns gibt, mit dem man rechnen muss, ohne ihn berechnen zu können.

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