Interview mit Niall Ferguson "Ein neuer Fall Lehman ist jederzeit möglich"

Niall Ferguson ist einer der bekanntesten und renommiertesten Wirtschaftshistoriker der aktuellen Zeit. Kaum jemand kennt sich mit den Finanzkrisen in der Geschichte so gut wie er. Umso besser kann Ferguson die Pleite von Lehman Brothers vor einem Jahr einschätzen. Im Handelsblatt-Interview kritisiert er die Unbelehrbarkeit von Bankern und Politikern.

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Niall Ferguson kritisiert Banken und Politik. Quelle: handelsblatt.com

Professor Ferguson, wo waren Sie vor einem Jahr als Lehman Pleite ging?

Ferguson: Ich war in London und konnte am nächsten Morgen mit ansehen, wie der Konkurs auf dieser Seite des Atlantiks fast noch größere Folgen hatte als zunächst in New York. Lehman hatte ja kurz zuvor noch acht Milliarden Dollar aus London abgezogen und damit ihre britische Tochter in große Ungewissheit gestürzt.

Was war Ihre erste Reaktion?

Ich war alarmiert. Der Untergang von Lehman war das bis dahin deutlichste Zeichen, dass wir nach der Weltwirtschaftskrise von 1931 eine neue Depression erleben.

Waren Sie überrascht?

Nein, nicht wirklich. Dass die Großbanken in Schwierigkeiten kommen würden, konnte man lange zuvor an ihren horrenden Schulden in den Bilanzen erkennen. Und es war klar, dass nicht alle vom Staat gerettet werden konnten.

Aber war Ihnen sofort klar, dass der Untergang von Lehman eine historische Zäsur in der Finanzkrise darstellte?

Ja. Ich fühlte wie der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan, dass es sich um ein Jahrhundertereignis handelte. Und mir war klar, dass wir in etwas geraten waren, wovor der amerikanische Ökonom Hyman Minsky gewarnt hatte, nämlich in eine zweite Weltwirtschaftskrise. Jeder wartete darauf, welche Bank als nächstes in den Abgrund stürzen würde. Und Morgan Stanley war nahe daran.

Diese atemberaubende Geschwindigkeit, mit der sich nach dem Fall von Lehman die Ereignisse überstürzt haben, gibt es dafür historische Parallelen?

Ja das war in vielen Finanzkrisen der Fall: 1873, 1907 und dann natürlich zu Beginn der großen Depression 1931. Es ist meist der Untergang einer großen Bank, der eine Panik auf den Höhepunkt treibt.

Was war an Lehman so besonders?

Es war nicht die Größe. Lehman war keine riesige Investmentbank. Es war die Furcht vor einem Zusammenbruch des gesamten Bankensystems, von der die Panik ausgelöst wurde. Diese Kettenreaktion ist durchaus typisch für große Finanzkrisen.

Wer war für den Untergang von Lehman und die folgende Panik verantwortlich?

Der damalige US-Finanzminister Hank Paulson hat sicher unterschätzt, welch ein Erdbeben die Lehman-Pleite auf den internationalen Finanzmärkten auslösen würde.

Die USA haben nur an sich gedacht?

Ja, das Krisenmanagement handelte nur im Interesse der USA und hatte keine globale Perspektive. Paulson und seine Leute sorgten sich vor allem um die Wall Street und unterschätzten die Folgen in London und anderswo. Der britische Notenbank-Chef Mervyn King hat das einmal so auf den Punkt gebracht: Banken leben international, aber sterben national.

Wäre uns vieles erspart geblieben, wenn Lehman gerettet worden wäre?

Ferguson: Ich halte es für naiv, zu glauben, alles wäre gut gegangen, wenn man nur Lehman gerettet hätte. Viele andere Banken standen am Abgrund. Und man hätte ohne den Fall Lehman im US-Kongress sicher keine Unterstützung für die Rettung der Banken bekommen.

Was hätte die US-Regierung besser machen können?

Das größte Problem war, das die Politik seit der Krise von Bear Stearns keine konsistente Linie hatte. Es war nicht klar, ob der Staat alle systemwichtigen Banken stützen oder ob Paulson nach Lust und Laune den staatlichen Rettungsring werfen würde. Jeder erwartete damals, dass der Staat für eine gefährdete Bank zumindest eine Übernahme durch einen Konkurrenten arrangieren würde. So wurde dann ja auch mit Bear Stearns und Merrill Lynch verfahren. Dass dies bei Lehman nicht geschah, erzeugte enorme Unsicherheit und Panik.

Welche Lehren sollten wir aus dem Lehman-Debakel ziehen?

Die Lehren sind sehr klar, aber wir folgen ihnen nicht. Keine Bank sollte "too big to fail" sein. Zwar gibt es fast über all eine Einlagensicherung, aber es gibt keine Regel, die besagt, dass die Besitzer von Bankanleihen geschützt werden müssen.

Wie werden sie geschützt?

Wir sind heute in einer Situation, wo die Überlebenden, also Goldman Sachs, Morgan Stanley und JP Morgan, eine implizite Staatsgarantie genießen. Sie können nicht untergehen, weil niemand einen zweiten Fall Lehman riskieren will. Das gibt ihnen die Möglichkeit ihr mit Krediten finanziertes Spiel auf den Finanzmärkten fortzusetzen. Die ironische Konsequenz ist, dass die Rettung aus der Krise uns in eine noch schlimmere Lage gebracht hat.

Aber die Finanzaufseher weltweit versuchen doch, mit höheren Kapitalanforderungen den Spieltrieb einzudämmen?

Solche Maßnahmen sind notwendig, aber sie reichen nicht aus. Selbst wenn man die Investmentbanken jetzt zwingt, ihre Bilanzsumme im Verhältnis zum Kernkapital (Leverage Ratio) von 30 auf 20 zu 1 zu reduzieren, wird damit noch nicht die Staatsgarantie aufgehoben.

Was schlagen Sie vor?

Wie müssen weiter als die G20-Länder gehen und die Größe und Konzentration des Finanzsektors infrage stellen. Soll der Staat Großbanken zerschlagen?

Ich bin dafür, dass man gegen die Konzentration im Investment- und Retailbanking mit den Mitteln des Kartellrechts vorgeht. Die Citigroup sollte es nicht geben. Bank of America ist zu groß.

Haben die Banken ihr Geschäftsmodell überarbeitet?

Ja, sie leihen kein Geld mehr an Konsumenten. Aber sie engagieren sich weiterhin stark im Eigenhandel und gehen dabei höhere Risiken ein. Nichts kann rechtfertigen, wenn Investmentbanken heute, abgesichert durch Steuergelder, mit riskanten Geschäften hohe Profite einfahren. Wäre Adam Smith noch am Leben, er würde seine Augen rollen. Das ist eine Perversion des freien Marktes.

Lernen Menschen überhaupt etwas von solchen Krisen?

Der britische Historiker A.J.P. Taylor sagte einmal, alles was wir aus der Geschichte lernen können, ist, wie man neue Fehler macht. Ich habe das Gefühl, dass die Finanzaufseher noch den letzten Krieg ausfechten, anstatt sich auf den nächsten zu konzentrieren. Bis heute wollen viele nicht einsehen, dass die Kreditkrise von großen, kreditfinanzierten Finanzinstituten ausgelöst wurde, die dazu noch eine Staatsgarantie besaßen.

Sollten wir Finanzspekulationen mit einer Transaktionssteuer eindämmen?

Ich finde das nicht überzeugend, weil damit nur die Symptome, nicht aber die wirklichen Ursachen der Misere bekämpft werden. Ohne eine weltweite Einführung bleibt eine sogenannte Tobin-Steuer wirkungslos.

Sollte der Staat die Boni der Banker begrenzen?

Auch damit würde man nur an den Symptomen herumdoktern. Besser ist es auch hier, die Staatsgarantien zu entziehen und die Kapitalanforderungen zu erhöhen. Dann hätten die Banken weniger Mittel, um große Boni auszuschütten.

Was ist das größte verbliebene Risiko der Finanzkrise?

Ein neuer Fall Lehman. Wenn es nicht zum Untergang weiterer Banken kommt, wird sich der Schuldenberg von den Bankbilanzen auf die nationalen Haushalte verlagern. Im nächsten Jahr werden wir sehen, welche Regierungen finanzielle Verpflichtungen eingegangen ist, die sie nicht erfüllen kann. Länder wie Irland gehören sicher ganz oben auf diese Liste. Das größte Risiko besteht also auf den Anleihemärkten.

Hat die Wirtschaftswissenschaft in der Krise versagt?

Ökonomie ist keine Wissenschaft. Es ist vielmehr ein Zweig der angewandten Mathematik. In der Zukunft werden wir die Ökonomie vielleicht als Teil der Astrologie einordnen. Es ist doch offensichtlich, dass alle makroökonomischen Lehrbücher die Krise nicht erklären können.

Was können uns Historiker besser beibringen als Ökonomen?

Zum Beispiel, dass die historische Daten von drei Jahren nicht ausreichen, um ein zuverlässiges Risikomodell zu entwickeln. Ein Zeitraum von 100 Jahren ist weit aus besser, weil man allein schon 70 Jahre zurückgehen muss, um eine ähnlich große Finanzkrise zu finden. Ohne diesen Blick zurück in die vergangenen Jahrhunderte wird man nie erkennen, mit welchen Ereignissen man rechnen muss. Unser Erinnerung reich dafür nicht aus.

Wir brauchen also mehr Historiker in den Banken.

Es hätte einen großen Vorteil, wenn Politiker und Banker mehr über die Finanzgeschichte wüssten.

Niall Ferguson

Ein Schotte ... ist Niall Ferguson geblieben. Das erkennt man nicht nur an seinem Akzent, sondern auch an seiner weltläufigen Geisteshaltung. Wie sein berühmter Vorfahre Adam Smith liebt es der junge Historiker über den Tellerrand seines Faches hinauszublicken. Seine erste Professur bekam er 2000 in Oxford für "Political and Financial History". Aufsehen erregte Ferguson unter anderem mit seiner Geschichte über den Aufstieg der Rothschilds und über den Ersten Weltkrieg (The Pity of War). Sein jüngstes Buch "The Ascent of Money" ist ein internationaler Bestseller.

... in Amerika Die Wahlheimat von Ferguson sind jedoch die USA. 2002 wechselt er von Oxford an die Stern Business School der New York University, nur um zwei Jahre später dem Ruf an die Eliteuniversität Harvard zu folgen. Ferguson ist keiner, der die Weltgeschichte aus dem Elfenbeinturm beobachtet. Er mischt sich ein, sucht die Kontroverse und das Licht der Öffentlichkeit. So war er zum Beispiel Berater des US-Präsidentschaftskandidaten John McCain. Mit Gastbeiträgen zur Staatsverschuldung in den USA nimmt er auch zu aktuellen Themen kritisch Stellung.

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