EZB-Vizepräsident Lucas Papademos im Interview EZB fordert Verantwortung für europäische Bankenaufsicht

EZB-Vizepräsident Lucas Papademos über eine neue Bankenaufsicht für Europa, Zinssenkungen in der Krise und den Konflikt um Konjunkturprogramme.

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Der EZB-Vizepräsident Lucas Papademos Quelle: Bert Bostelmann für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Papademos, schlafen Sie noch gut in diesen aufregenden Zeiten?

Lucas Papademos: Derzeit erleben wir in der Tat außergewöhnliche und aufregende Zeiten. Manchmal ein wenig zu aufregend.Beim Umgang mit den Finanzmarktturbulenzen müssen wir allerdings Ruhe bewahren.

Die  Wirtschaft des Euro-Raums gleitet immer tiefer in die Rezession. Wie tief und lang wird die Talfahrt?  Nach jetziger Informationslage gehen wir davon aus, dass die Wirtschaftsaktivität im Euro-Raum voraussichtlich noch zwei bis drei Quartale lang schwach bleibt und in der Tat schrumpfen wird. Eine allmähliche Erholung ist frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2009 zu erwarten. Die Wirtschaftsaussichten sind allerdings mit ungewöhnlich großer Unsicherheit behaftet. Es ist durchaus möglich, dass die Erholung erst Anfang 2010 einsetzt.

Wie soll ein Aufschwung überhaupt zustande kommen? Der deutliche Rückgang der Ölpreise  und die umfangreichen Maßnahmen von Politik und Zentralbanken werden den Aufschwung in Gang bringen. Der Rückgang der Rohstoffpreise wird sich positiv auf das real verfügbare Einkommen auswirken und den Konsum wie auch die Investitionen stützen. Darüber hinaus werden die kräftigen Zinssenkungen der EZB und anderer Zentralbanken weltweit, die von den Regierungen für den Bankensektor bereitgestellten Finanzhilfen und die staatlichen Konjunkturprogramme in einer Reihe von Ländern die Wirtschaft nach und nach ankurbeln und das Vertrauen stärken.

Die EZB hat ihre Prognose für das Wachstum des Euroraums für 2009 von plus 1,2 auf minus 0,5 % zurückgenommen. Andere Institute und Banken sind da deutlich pessimistischer. Müssen Sie Ihre Projektionen bald korrigieren? Die von Mitarbeitern der EZB und des Eurosystems erstellten Projektionen verwenden Bandbreiten für Wachstum und Inflation, um die Unsicherheiten zu verdeutlichen, mit denen diese Projektionen behaftet sind. Wir können also nicht ausschließen, dass die Wirtschaftstätigkeit 2009 schwächer ausfällt, als dies der Mittelwert der projizierten Bandbreite des Wachstums in Höhe von -0,5 % nahe legt. Angesichts der verfügbaren Informationen wäre jedoch die Schlussfolgerung, dass eine Korrektur der Projektionen erforderlich ist, voreilig, auch wenn die Abwärtsrisiken in Bezug auf das Wachstum überwiegen.

Andere sind da weniger zurückhaltend. Man hat den Eindruck, die Wirtschaftsinstitute korrigieren derzeit im Wochentakt ihre Prognosen herunter. Wie glaubwürdig sind Konjunkturprognosen überhaupt noch? Außergewöhnliche Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, können nur sehr schwer mit Modellen erfasst und vorhergesagt werden. Das Wirtschaftssystem funktioniert nicht nach einem unveränderlichen Naturgesetz, es entwickelt sich ständig weiter. Private Haushalte und Unternehmen fällen ihre Entscheidungen auf Grundlage sich ändernder Erwartungen über die Zukunft und anhand unvollständiger Informationen. Manchmal führen Ereignisse, wie in der Finanzkrise, zu plötzlichen und weit reichenden Veränderungen im Hinblick auf Erwartungen, Vertrauen und Verhalten. Wirtschaftliche Prognosen sind mit erheblicher Unsicherheit behaftet, selbst unter normalen Umständen. In der aktuellen Situation ist es noch schwieriger, Aussagen über künftige wirtschaftliche Entwicklungen zu treffen. Man kann von Prognosen nicht erwarten, dass sie perfekt sind. Sie bieten uns jedoch einen nützlichen, auf unserem Wissen und unserer Erfahrung basierenden Maßstab für den Blick in die ökonomische Zukunft.

"Wir sollten vorsichtig mit dem Wort Deflation umgehen"

Andere Banken wie die US-Fed und die Bank of England haben ihre Leitzinsen schneller und kräftiger gesenkt als die EZB. Die Fed hat in einem historischen Schritt ihre Zinsen auf Null gesenkt. Hat die EZB den Anschluss verpasst? Nein, keinesfalls. Erstens arbeitet jede Zentralbank in einem anderen wirtschaftlichen und finanziellen Umfeld und hat andere Zielprioritäten. Zweitens sind der Wachstums- und Inflationsausblick und die damit verbundenen Risiken in den einzelnen Ländern unterschiedlich gewesen. Auch die wirtschaftliche Ausgangslage war in jedem Land anders. Einige der Zentralbanken, die die Zinsen besonders drastisch oder rasch gesenkt haben, hatten anfangs ein weitaus höheres Zinsniveau als wir. Dass manche Zentralbanken ihre Leitzinsen schneller gesenkt haben, heißt nicht, dass sie uns voraus sind.

Aber von Inflationsrisiken kann im Euro-Raum doch keine Rede mehr sein. Gefährdet die EZB mit ihrer Trägheit die Wirtschaft? Die EZB hat rechtzeitig reagiert, als sich aus unserer Sicht die Risiken für die Preisstabilität verringerten: Im Herbst ist der Ölpreis gefallen, die Wirtschaftstätigkeit hat sich bedeutend abgeschwächt und die Wachstumsaussichten haben sich eingetrübt. Wir haben daraufhin nicht gezögert, die Leitzinsen zu senken – binnen zwei Monaten um 1,75 Prozentpunkte auf nunmehr 2,5 Prozent. Wenn die Risiken für die Preisstabilität nach unserer Einschätzung weiter nachlassen, könnte die Geldpolitik weiter gelockert werden und wir werden entsprechend handeln.

Haben Sie Angst vor einer Deflation, also vor einem Rückgang des allgemeinen Preisniveaus?  Wir sollten vorsichtig mit dem Wort Deflation umgehen und seine Bedeutung präzise definieren. Bei der Deflation handelt es sich um einen anhaltenden Rückgang des Preisniveaus über einen gewissen Zeitraum, der sich in den Erwartungen verfestigt. Wir gehen nicht davon aus, dass dieses Phänomen im Euro-Raum auftritt. Allerdings dürfte die Inflation gegen Mitte nächsten Jahres deutlich nachlassen – wobei das genaue Ausmaß des Rückgangs von der Entwicklung der Rohstoffpreise abhängt – und in einigen Ländern könnte sie sogar vorübergehend negativ ausfallen. Ende 2009 dürfte sie aber vermutlich wieder anziehen und dann auf einem Niveau verharren, das im Einklang mit Preisstabilität steht. Die erwarteten Preisentwicklungen bergen daher kein Deflationsrisiko.

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