Finanzkrise Markt oder Staat: Wer hat versagt?

Die US-Finanzkrise wächst sich zu einer Systemkrise des Kapitalismus aus. Ein Plädoyer für die Marktwirtschaft von Thomas Straubhaar, Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinsituts (HWWI).

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Der Direktor des Hamburgischen Quelle: dpa

Die Zeit der Abrechnung ist gekommen. „Ist der Kapitalismus noch zu retten?“, fragt nicht nur ZDF-Talkerin Maybrit Illner.

Alle prügeln sie auf die Abzocker ein, die erst die Gewinne privatisiert haben und nun die Verluste sozialisieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert die USA, weil die Amerikaner von ihrem Finanzmarkt profitiert hätten, nun aber die Reparaturkosten auf die ganze Welt verteilten.

Der SPD-Finanzminister sieht eine unverantwortliche Überhöhung eines zügellosen Renditestrebens ohne ausreichende Regulierung. Ideologische Differenzen verschwinden im Kampf gegen einen neuen gemeinsamen Feind: die raffgierigen Kapitalisten. Wer immer schon heimliche Zweifel am marktwirtschaftlichen System hatte, nun darf er sie laut äußern. „Zivilisiert den Kapitalismus!“, fordert „Die Zeit“, schließlich hätten „Gier und Größenwahn zum schlimmsten Bankenkrach seit Generationen geführt“.

Aus der US-Immobilienkrise wird so eine allgemeine Systemkrise des Kapitalismus. 20 Jahre lang schien der Streit zwischen Markt- und Staatswirtschaft entschieden. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, das Auseinanderbrechen kommunistischer Kunststaaten und der Fall des Eisernen Vorhangs waren mehr als eindrückliche Belege für die Überlegenheit freier Märkte. Vier Jahrzehnte unterschiedlicher Ideologien hatten im Westen Deutschlands mehr oder weniger Wohlstand für alle und im Osten Mangel für die meisten zur Folge. Die freie Marktwirtschaft hatte die zentrale Planwirtschaft klar besiegt.

Argwöhnisch beobachteten die Deutschen gleichwohl, wie Märkte dereguliert und Staatsbetriebe privatisiert wurden.

Energie, Telefon, Post, Verkehr, Gesundheit – überall war der Staat auf dem Rückzug. Oft ohne dass die Bevölkerung wahrnehmen konnte oder wollte, ob und wie die Alltagsversorgung besser oder billiger wurde.

Gerade in Ostdeutschland fiel der Vorwurf einer kalten Marktgläubigkeit auf fruchtbaren Boden.

Und jetzt das: Wie ein Tsunami fegt eine Pleitenwelle über die Finanzmärkte. Die Wall Street, das Herz des Kapitalismus, steht vor dem Infarkt. Wie Bruchbuden werden Investmentbanken mitgerissen. Keine der kapitalistischen Ikonen überlebte die Schockwellen. Noch ist offen, wie weit Nachbeben in den nächsten Monaten weitere Finanzinstitute einstürzen lassen. Mit „Hunderten von Milliarden Dollar“ müssten notleidende Kreditinstitute gestützt werden, um Schlimmeres zu verhindern und „um Wachstum und Wohlstand zu fördern“, warnt US-Finanzminister Henry Paulson.

Es gibt nichts schönzureden: Eine Verstaatlichung privater Risiken und die gigantische, letztlich durch den Steuerzahler finanzierte und mit der Gießkanne über Banken und Versicherungen ausgegossene Staatshilfe wäre eine Bankrotterklärung für die Marktwirtschaft. Ein Bailout, die staatlich subventionierte Befreiung aus einer Bürgschaft oder einem Vertrag, zerstört die wichtigste Grundregel eines mündigen Handelns, das eigenverantwortlich und eigenbestimmt ist – dass Verantwortung und Haftung untrennbar verbunden sind. So kann Marktwirtschaft nicht funktionieren, auch nicht nach dem neoliberalen Lehrbuch.

Doch das Marktversagen von heute ist die Folge des Staatsversagens von gestern.

Es war die viel zu expansive Geldpolitik in der Amtszeit des wohl fälschlicherweise als herausragend bewerteten Alan Greenspan, die mit niedrigen Zinsen für zu viel Liquidität und damit für die Immobilienblase sorgte.

Sie hat die Spekulation auf immer weiter steigende Hauspreise mit billigen Hypothekarkrediten befeuert. Flankiert von der Bush-Administration, die sich in eine teure, schuldenverursachende Kriegsstrategie verlor, entstand die explosive Mischung einer Politik des billigen Geldes und eines Lebens auf Pump. Es war der Staat, der den Massen suggerierte, der Traum vom billigen Eigenheim ohne Eigenkapital sei für alle realisierbar. Es war die Politik, die Freddie Mac und Fannie Mae, die beiden kollabierten staatsnahen Hypothekenbanken, drängte, eigenkapitalschwachen Niedrigverdienern Ramschkredite einzuräumen. So konnte kurzfristig die Wirtschaft stimuliert werden, was innenpolitisch half, die Kosten der Außenpolitik erträglicher zu machen.

Politik und Volk haben das Vertrauen in das freie Spiel der Kräfte verloren

Tatsache ist, dass weltweit Politik und Bevölkerung das Vertrauen in das freie Spiel der Marktkräfte, in die Entdeckungskraft des Wettbewerbs und die moralische Integrität von Managern und Aufsichtsbehörden verloren haben.

In Brüssel, Paris, Berlin und anderen Hauptstädten macht sich kaum kaschierte Schadenfreude über das Ende des US-Kapitalismus breit.

Nun wird das Pendel der Geschichte zurückschlagen. Der Staat kehrt zurück.

Die Totengräber einer liberalen Wirtschaftsordnung wollen die Chance auf ein Rollback nicht ungenutzt verstreichen lassen. Und das gilt nicht nur für das Finanzwesen. Überall werden es liberale Stimmen schwerer haben, sich Gehör zu verschaffen. Überall wird es den Kritikern von Kapitalismus und Marktwirtschaft leichter fallen, die Massen zu mobilisieren und die in den vergangenen Jahren deregulierten Märkte wieder an staatliche Fesseln zu ketten.

Dabei sind Staat und Markt gar keine unversöhnlichen Gegensätze. Ohne Staat kann zwar jeder machen, was er will, er ist aber auch ohnmächtig, seine Freiheit gegenüber anderen durchzusetzen. Nur ein starker Staat kann individuelle Grund- und Freiheitsrechte, Eigentums- und Verhaltensrechte und damit die Funktion offener und freier Märkte sichern. Er muss einen Rahmen für die Tätigkeiten privater Marktakteure setzen und mit seinen Gesetzen für funktionierenden Wettbewerb sorgen.

Das gilt selbstredend auch für die Finanzmärkte. Ganz offensichtlich haben die bisherigen Regeln nicht genügt, um ein eklatantes Marktversagen zu verhindern. Das gilt es zu korrigieren. Vor allem müssen die für Banken geltenden Eigenkapitalvorschriften, Bilanzierungsrichtlinien und Transparenzforderungen auch für alle anderen bankenähnlichen Finanzinstitute mit derselben Strenge gültig sein.

Dem Ruf nach „einer stärkeren international abgestimmten Regulierung auf internationaler Ebene“ (Finanzminister Steinbrück) ist dabei mit Vorsicht zu begegnen. Gerade der Wettbewerb zwischen nationalen Vorschriften kann auch Vorteile haben.

Man stelle sich vor, die USA hätten die für die Wall Street geltenden Regeln für die ganze Welt verbindlich gemacht. Dann wäre das europäische Modell der eigenkapitalstarken, universellen Geschäftsbank hierzulande durch das in den USA 1933 eingeführte Trennbankensystem mit seinen Investmentbanken verdrängt worden. Dann würde heute nicht nur die Wall Street, sondern auch der Frankfurter Bankenplatz in Trümmern liegen.

Weder strengere Gesetze noch schärfere Kontrollen können menschliches Fehlverhalten verhindern

Die Suche nach besseren Regeln sollte sich von einer banalen Einsicht leiten lassen.

Weder wird sich die nächste Krise verhindern lassen, noch werden die besten Regeln von heute verhindern können, dass morgen innovative Unternehmer, aber eben auch Zocker und Profiteure das System herausfordern.

Wer glaubt, staatliche Finanzaufsichtsbehörden bräuchten nur genügend Kompetenzen, dann ließen sich Finanzkrisen verhindern, unterliegt einer Regulierungsillusion. Spekulationsblasen hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Sie sind untrennbar mit dem Finanzkapitalismus verbunden. Krisen gehören zu Märkten. Sie sind Bausteine auf dem Weg des Fortschritts von guten zu besseren Lösungen. Sie helfen, aus Fehlern zu lernen und klüger zu handeln.

Weder strengere Gesetze noch schärfere Kontrollen können menschliches Fehlverhalten verhindern.

Sie können auch kein tugendhaftes Verhalten erzwingen. Gier und Neugier gehören zu den Grundlagen einer kapitalistischen Ordnung. Die Gier nach Gewinn stimuliert die Neugier.

Sie lässt Menschen nach besseren Ideen suchen. Niemand weiß im Voraus, wer Erfolg haben und wer scheitern wird. Deshalb ist der Weg zum Ziel im Kapitalismus mit Konkursen und Verlusten gepflastert. Dennoch ist kein anderes Wirtschaftssystem bei der Suche nach Lösungen für komplexe Probleme auch nur annähernd so erfolgreich wie der Kapitalismus. Das Zusammenspiel von Freiheit, Verantwortung und Haftung hat trotz aller Krisen zu mehr Wohlstand geführt.

Je weniger der Staat den Menschen vorgibt, wie sie zu leben und arbeiten haben, umso stärker werden Erfinder-, Entdecker- und Unternehmerinstinkte geweckt.

Das war in der Vergangenheit so. Und es gibt keinen Grund, wieso es nicht auch für die Zukunft gelten soll. Wer die Möglichkeiten begrenzt, Risiken einzugehen, bremst die Dynamik.

Es geht um einen Abwägungsprozess: Wie ein Richter die gegenläufigen Argumente von Staatsanwalt und Verteidiger gewichten muss, gilt es, die Kosten von Markt- und Staatsversagen gegeneinander abzuwägen. Freie Märkte sollen etwas, aber nicht zu stark durch staatliche Regulierungen begrenzt werden.

Es gilt, zu verhindern, dass Konzerne so wachsen, dass sie „too big to fail“ sind, ihr Untergang also auch andere, unbeteiligte Firmen zerstört und im schlimmsten Fall das Land oder gar die Weltwirtschaft mitreißt. Es gilt, den Markt zu regulieren, damit der Wettbewerb funktioniert. Mehr nicht. Werden Märkte zu stark gefesselt, sinken Wachstum, Beschäftigungschancen und Verteilungsspielraum.

Nimmt man die politische Rhetorik der vergangenen Tage ernst, ist zu erwarten, dass das Re-Regulierungspendel übers Ziel hinausschießt. Gesetzlich erzwungen oder freiwillig dürften die Finanzinstitute vorsichtiger werden. Risikoreiches Verhalten wird teurer und weniger attraktiv.

Damit aber verliert die Wirtschaft eine wichtige Antriebskraft. Das reale Trendwachstum der Weltwirtschaft dürfte sich spürbar verlangsamen. Das kann niemanden freuen. Weder jene, die schon immer glaubten, dass der Kapitalismus keine gute Idee sei, noch jene, die wissen, dass es zur Marktwirtschaft – bei allen ihren Mängeln – keine Alternative gibt.

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