Nassim Nicholas Taleb Gefährliche Banker - Bestseller-Autor erklärt die Finanzkrise

Finanzmathematiker und Bestseller-Autor Nassim Nicholas Taleb erklärt, wie das Außergewöhnliche die Märkte bestimmt und die Banken Risiken unterschätzen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Autor Nassim Nicholas Taleb

Es ist das Buch zur Finanzkrise: Im Bestseller „Der Schwarze Schwan“ erklärt der Finanzmathematiker und ehemalige Hedgefonds-Manager Nicholas Nassim Taleb, warum wir die Risiken am Finanzmarkt unterschätzen. Seit der Titel im Mai 2007 – drei Monate vor Beginn der Turbulenzen – veröffentlicht wurde, prägt er die Debatte. „Haben Sie Taleb gelesen?“, fragte kürzlich ein Investmentbanker der Deutschen Bank, als das Gespräch darauf kam, wie es zu der enormen Fehleinschätzung des Marktrisikos kommen konnte. Bei der Konferenz der bankunabhängigen Anlagegesellschaft Acatis in Frankfurt vor wenigen Wochen zitierten gleich mehrere Fondsmanager in ihren Vorträgen den „Schwarzen Schwan“. Der Grund: Taleb begründet, warum Ausnahme-Ereignisse die Finanzmärkte bestimmen. Das wirft die Modelle der Branche zur Risikoberechnung über den Haufen. „Risiko ist im allgemeinen Verständnis die Gefahr, sein Geld zu verlieren. Aber in der Finanzwissenschaft heißt es das nicht“, sagt Carlos Jarillo vom Schweizer Fondsanbieter Strategic Investment Advisors, der das Buch ebenfalls gelesen hat. Die Finanzwelt misst das Risiko an den Kursschwankungen der Vergangenheit, was wenig über die Zukunft sagt – wie Taleb am Beispiel eines Truthahns illustriert, der täglich gefüttert wird, bis der Schlachttag kommt. Der gebürtige Libanese Taleb setzt auf das Außergewöhnliche – und machte so als Optionshändler der Bank First Boston am Schwarzen Montag im Oktober 1987 ein Vermögen. Danach führte er jahrelang einen eigenen Hedgefonds. Die WirtschaftsWoche bringt vorab Auszüge aus dem Buch, das am 1. Oktober auf Deutsch erscheint.

Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, mag das eine interessante Überraschung für ein paar Ornithologen (und andere Leute, denen die Farbe von Vögeln extrem wichtig war) gewesen sein, doch dort liegt die Bedeutung der Geschichte nicht. Sie veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres Wissens. Eine einzige Beobachtung kann eine Feststellung, die aus Jahrtausenden von bestätigenden Sichtungen von Millionen weißer Schwäne abgeleitet wurde, widerlegen.

Alles, was dafür nötig ist, ist ein einziger (und, wie ich gehört habe, ausgesprochen hässlicher) schwarzer Vogel. Ich möchte einen Schritt über diese philosophisch-logische Frage hinausgehen und in eine empirische Realität vorstoßen, von der ich seit meiner Kindheit besessen bin. Was wir hier einen Schwarzen Schwan nennen (mit einem Großbuchstaben am Anfang), ist ein Ereignis mit den drei folgenden Attributen.

Ein Schwarzer Schwan ist erstens ein Ausreißer – er liegt außerhalb des Bereichs der regulären Erwartungen, da nichts in der Vergangenheit überzeugend auf seine Möglichkeit verweisen kann. Er hat zweitens enorme Auswirkungen. Drittens bringt uns die menschliche Natur dazu, im Nachhinein Erklärungen für sein Eintreten zu konstruieren, um ihn erklärbar und vorhersagbar zu machen.

Die drei Attribute sind also Seltenheit, massive Auswirkungen und Vorhersagbarkeit im Rückblick (allerdings nicht in der Vorausschau). Eine kleine Zahl Schwarzer Schwäne erklärt so ziemlich alles in unserer Welt, vom Erfolg von Ideen und Religionen über die Dynamik geschichtlicher Ereignisse bis zu Elementen unseres persönlichen Lebens. Seit wir vor rund 10.000 Jahren das Eiszeitalter hinter uns gelassen haben, hat der Effekt dieser Schwarzen Schwäne sich verstärkt.

Er hat während der industriellen Revolution begonnen, sich zu beschleunigen, da die Welt damals komplizierter wurde; alltägliche Ereignisse – diejenigen, mit denen wir uns befassen, über die wir sprechen und die wir nach der Lektüre der Zeitungen vorherzusagen versuchen – haben dagegen immer mehr an Bedeutung verloren. Die Anwendung der Wissenschaften der Ungewissheit auf Probleme der realen Welt hatte nämlich lächerliche Auswirkungen; ich durfte sie in der Finanzwelt und der Wirtschaft selbst erleben.

Fragen Sie Ihren Portfoliomanager doch mal, wie er „Risiko“ definiert – er wird Ihnen sehr wahrscheinlich eine Messgröße präsentieren, die die Möglichkeit Schwarzer Schwäne ausschließt; man hat für die Schätzung des Gesamtrisikos also keinen besseren prädiktiven Wert als die Astrologie (wir werden noch sehen, wie der intellektuelle Betrug durch die Mathematik verbrämt wird). Dieses Problem ist bei sozialen Dingen sehr verbreitet.

Woher wissen wir, was wir wissen? Woher wissen wir, dass das, was wir bei bestimmten Objekten und Ereignissen beobachtet haben, ausreicht, um uns in die Lage zu versetzen, ihre anderen Eigenschaften zu erschließen? In Wissen, das durch Beobachtung gewonnen wurde, sind immer Fallen eingebaut.

Wir wollen uns einen Truthahn vorstellen, der jeden Tag gefüttert wird. Jede einzelne Fütterung wird die Überzeugung des Vogels stärken, dass es die Grundregel des Lebens ist, jeden Tag von freundlichen Mitgliedern der menschlichen Rasse gefüttert zu werden, die „dabei nur sein Wohl im Auge haben“, wie ein Politiker sagen würde. Am Nachmittag des Mittwochs vor dem Erntedankfest wird dem Truthahn dann etwas widerfahren, und er wird seine Überzeugung revidieren müssen.

Banken können über lange Zeit stetige Gewinne machen, dann aber bei einem einzigen Rückschlag alles verlieren. Die Bankiers, die Kredite vergeben, sind traditionell birnenförmig, glatt rasiert und ausgesprochen tröstlich und langweilig gekleidet: dunkle Anzüge, weiße Hemden, rote Krawatten. Für ihr Kreditgeschäft stellen die Banken nämlich extra langweilige Leute ein und schulen sie darin, noch langweiliger zu werden. Damit wollen sie den Kunden aber nur Sand in die Augen streuen. Ihre Mitarbeiter sehen nur deshalb konservativ aus, weil ihre Kredite ganz, ganz selten platzen. Es gibt keine Möglichkeit, die Effektivität ihrer Aktivitäten zu beurteilen, indem man sie einen Tag, eine Woche, einen Monat … oder sogar ein Jahrhundert lang beobachtet! Im Sommer 1982 verloren große US-amerikanische Banken nahezu ihre gesamten früheren Erträge (kumulativ), so ziemlich alles, was sie in der Geschichte des amerikanischen Bankwesens erwirtschaftet hatten – alles! Sie hatten Kredite an süd- und mittelamerikanische Länder vergeben, die ihren Zahlungsverpflichtungen alle zur gleichen Zeit nicht mehr nachkamen – „ein außergewöhnliches Ereignis“. Ein Sommer reichte also, um deutlich zu machen, dass es sich dabei um ein Geschäft von Dummköpfen handelte und dass alle ihre Gewinne aus einem sehr riskanten Spiel stammten. Die Banker brachten aber die ganze Zeit über alle, insbesondere sich selbst, zu der Überzeugung, sie seien „konservativ“, vorsichtig. Das sind sie nicht! Sie zeigen lediglich ungeheures Geschick bei der Selbsttäuschung, sie kehren die Möglichkeit eines großen, verheerenden Verlusts einfach unter den Teppich.

Inhalt
  • Gefährliche Banker - Bestseller-Autor erklärt die Finanzkrise
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%