Im Mathematik-Unterricht an der High School hörte ich zum ersten Mal von Zenons Paradoxon: Man stelle sich einen Fußgänger vor, der auf eine zehn Meter entfernte Ziellinie zugeht, dabei aber immer kleinere Schritte macht: Jeder Schritt ist halb so lang wie der vorige. Somit nähert er sich zwar mit jedem Schritt der Ziellinie, kann sie aber nie erreichen, selbst wenn er unendlich viele Schritte tut.
Das ist nur ein Gedankenspiel. In der Realität würde jeder Fußgänger irgendwann sein Ziel erreichen oder aufgeben, jedenfalls nicht unendlich lange gehen.
Doch nicht jedes theoretische Problem löst sich in der Realität von alleine. Die aktuellen Negativzinsen etwa sind Realität. Doch viele Anleger tun so, als ob es sich um ein rein virtuelles Problem handele – ähnlich dem Zenon-Paradox –, bei dem sie trotzdem Erträge einstreichen könnten. In Deutschland liegt die Rendite für fünfjährige Bundesanleihen bei minus 0,3 Prozent. Ein Anleger, der 101,50 Euro investiert, wird in fünf Jahren nur 100 Euro zurückbekommen.
Zum Autor
Bill Gross, 71, gründete 1971 die Fondsgesellschaft Pimco, die später an die Allianz verkauft wurde. Über Jahrzehnte managte er dort den größten Rentenfonds der Welt. 2014 verließ er das Unternehmen und ging zum Konkurrenten Janus.
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Warum haben die Zentralbanken den Zins so weit gesenkt? Wollen sie den Anlegern Verluste einbrocken? Eher nein. Sie wollen Investoren in positiv verzinste Anlagen mit längerer Laufzeit oder höherem Kreditrisiko treiben und damit Inflation und Konjunktur ankurbeln.
Auf den ersten Blick wirkt das logisch. Es funktioniert aber nicht. Die Investoren kaufen weiterhin die ihrer Meinung nach sicheren Anlagen, selbst solche, die derzeit negativ rentieren. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Damit ist das Experiment gescheitert, denn dauerhafte Negativzinsen bringen das Geschäftsmodell von Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und die Anlagestrategie von Sparern zum Zusammenbruch.
Umstrittene Rezeptur
Warum gehen Anleger ein sicheres Verlustgeschäft ein? Viele, die noch immer Bundesanleihen mit fünf Jahren Restlaufzeit besitzen, halten es offenbar mit Zenon: Sie reden sich ein, dass sie die Ziellinie – das Fälligkeitsdatum und damit den sicheren Verlust – nie erreichen werden. Weil die Renditen für vierjährige Bundesanleihen noch stärker im Minus seien, werde der Kurs für die Fünfjährigen schon noch anziehen. Schließlich müssen deren Kurse steigen, damit ihre Renditen noch weiter sinken. Dann, so das Kalkül, lasse sich damit sogar noch ein bisschen Geld verdienen, und man kann sich auf die Schulter klopfen, denn man ist ja der Negativzinsfalle der EZB entgangen.
Teure Trugschlüsse
Das könnte sich als teurer Trugschluss erweisen. Denn das Paradoxon von Zenon, Mario Draghi und Janet Yellen ist eben leider nur das – ein Paradoxon. Selbst wenn die Renditen auf ewig gedrückt würden, müssten Anleger am Ende doch über die Ziellinie, sprich: das Laufzeitende erreichen. Und dann macht „der Markt“ Verlust. Und dieser Markt besteht aus vielen, vielen Möchtegern-Notenbank-Austricksern, aus Investoren, die, ob nun direkt oder über Fonds und Versicherungen, in sichere Verlustgeschäfte investiert sind. Bis zu 40 Prozent aller aktuell ausstehenden Bonds aus Industrieländern weisen bereits negative Renditen auf. Aber wen kümmert’s: Man kann ja noch rechtzeitig raus und Hochzinsanleihen oder Aktien kaufen.
Wer so denkt, glaubt auch an die gute Zinsfee. Außerdem hängen längst nicht nur Anleihen, sondern auch andere Anlagen vom Zinsniveau ab. Wenn die Renditen von Bundesanleihen und anderen Anleihen also immer weiter gedrückt werden, belastet das zum Beispiel auch die Erträge aus Aktienbesitz. Denn Investoren wollen laut Finanztheorie für ihren Aktienkauf mit einer Rendite belohnt werden, die der Summe aus einer mit sicheren Geldanlagen erzielbaren Rendite (risikoloser Zins) und einer Risikoprämie entspricht.
Sinkt also der allgemeine Zins, bleiben auch die Erträge aus Aktienbesitz weit unter dem aus historischer Erfahrung erwarteten Niveau. Nur, weil der risikolose Zins entweder nicht mehr risikolos ist oder unter die Nulllinie gedrückt wird, heißt das nicht, dass dieser Zusammenhang außer Kraft ist.
Zu wenig Wachstum
Die Wirklichkeit sieht so aus: Die Zentralbanken wollen durch eine lockere Geldpolitik und künstlich niedrige Zinsen um jeden Preis Deflation verhindern, also einen Preisrückgang auf breiter Front. Mit dieser Strategie stehen sie aber unter Erfolgszwang – und es läuft ihnen die Zeit davon. In den USA müsste bis 2017 vier bis fünf Prozent nominales Wirtschaftswachstum erreicht werden, damit man der aktuellen Geldpolitik einen Erfolg gutschreiben kann. Schließlich ist es ihr erklärtes Ziel, aus den Schuldenbergen heraus zu wachsen.
Derzeit liegt das Wachstum der US-Wirtschaft bei drei Prozent, was zu wenig ist, um das Verhältnis der Wirtschaftsleistung zum ebenfalls wachsenden Schuldenberg zu verbessern. In Europa und Japan ist die Situation noch schlechter. Scheitert die Zentralbankpolitik, werden die Märkte abstürzen und mit ihnen die kapitalistischen Geschäftsmodelle, die auf diesen Märkten aufbauen.