Die Aufnahmen zeigen wütende Demonstranten am Washington Square Park, Freunde beim Bier im Nachtclub und Selbstporträts – im Restaurant, vor einem Laden, im Museum. Auf Tausenden Schwarz-Weiß-Fotos hat Ai Weiwei seine Jahre in New York von 1983 bis 1993 dokumentiert. 220 davon sind derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau ausgestellt. Bei der Ausstellungseröffnung Mitte Oktober aber fehlte der chinesische Kunststar – er schickte eine Videobotschaft: „I hope you enjoy the show and I see you later.“
Wann in Berlin ein Wiedersehen mit Ai möglich ist, lässt sich nicht absehen – er steht seit Ende Juni 2011 unter Hausarrest. Der 54-Jährige, der die Regierung seiner Heimat seit Jahren offen kritisiert, war Anfang April von der Polizei an einen unbekannten Ort verschleppt, nach 81 Tagen freigelassen und dann wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 1,7 Millionen Euro angeklagt worden. Verschleppung und Anklage lösten eine Welle der Solidarität für Ai aus. Rund 30 000 Sympathisanten in ganz China – einige ließen zum Papierflieger gefaltete Scheine in den Garten seines Wohnhauses segeln – spendeten Geld für Ai, der den Steuerbehörden so knapp eine Million Euro übergeben konnte. Und sich bei den Spendern auf seine Weise bedankte: Jeder Gläubiger erhielt einen von Ai gestalteten und signierten Schuldschein. „Ich habe jedes Detail mit großer Sorgfalt geplant“, erklärt Ai seine Aktion. „Ob ich eine Skulptur schaffe, ein Haus entwerfe, in meinem Blog schreibe, koche oder mir die Haare schneide – alles ist Kunst.“
Die ist derzeit sehr gefragt: Ais Fotos touren um die Welt, die Londoner Tate Modern ließ ihn den Boden der Eingangshalle mit Millionen Sonnenblumenkernen aus Porzellan bedecken, das Victoria & Albert Museum beschäftigt sich mit Ais Keramiken, das Kunsthaus Bregenz mit Ais architektonischem Werk. Und an der New Yorker Luxusmeile Fifth Avenue wurde eine große Skulpturenserie gezeigt.
Raus aus den Museen
Diese rasante Entwicklung zeigt sich auch deutlich im neuesten Art Report. In dem von Art Logistics exklusiv für die WirtschaftsWoche ermittelten Künstler-Ranking machte Ai unter den lebenden Künstlern 2011 den größten Sprung nach vorn.
Ais Aufstieg zeigt auch: Die Ansprüche der Sammler und Museumsbesucher an zeitgenössische Kunst steigen. Gefragt ist eine Kombination aus Spektakel und ernsthaften Tönen. Künstler Ai habe den begrenzten Raum der Galerien und Museen überwunden und gezeigt, dass Kunst die reale Welt um uns herum sei, urteilt das renommierte Kunstmagazins Art Review. Und erklärte den Chinesen zum einflussreichsten Menschen der Kunstwelt. „Immer mehr Künstler verweigern sich Schubladen“, sagt Art-Logistics-Geschäftsführer Manfred Schumacher. „Sie setzen alle denkbaren Medien ein, wenn es ihrer Aussage dient.“
So wie viele Künstler, die 2011 im Art Report große Sprünge gemacht haben: etwa die Amerikanerin Taryn Simon und der Isländer Ragnar Kjartansson. Oder Mai-Thu Perret: Die gebürtige Genferin mit vietnamesischen Wurzeln zählt derzeit zu den Lieblingen der Kuratoren weltweit. Oder John Baldessari: Der 80-jährige Vater der US-Konzeptkunst machte im Olymp der ewig besten Künstler den weitesten Satz nach vorn. Sein Credo: „I will not make anymore boring art.“
Ai Weiwei - Die Kern-Botschaft
Es knirschte, es knackte, es prasselte: Mehr als 100 Millionen Sonnenblumenkerne hatte er ausschütten lassen, kniehoch verteilt auf einer Fläche von tausend Quadratmetern, mitten in der Eingangshalle des Museums Tate Modern. „Sunflower Seeds“ lautete der prosaische Titel der Arbeit, die Ai Weiwei im Oktober 2010 in Londons Ausstellungshalle am Südufer der Themse installierte. Keine echten Sonnenblumensamen – sondern naturgetreue Nachbildungen aus Porzellan. Zwei Jahre hatten mehr als 1000 professionelle Porzellanmacher aus einem südchinesischen Dorf an den Kernen gearbeitet, jeden einzeln geformt, gegossen, gebrannt, bemalt und wieder gebrannt. Zwei oder drei habe er selbst bemalt, sagt Ai, „aber nicht besonders gut“. Doch darauf kommt es dem 54-jährigen Chinesen auch nicht an. Er will nicht Kunst von überwältigender Schönheit schaffen. Sondern aufmerksam machen auf gesellschaftliche Missstände – etwa die Billigproduktion in seiner Heimat.
Art Report - Wer 2011 die größten Sprünge gemacht hat
Der chinesische Künstler, der hauptsächlich im Bereich Installationen arbeitet, verbesserte sich um 311 Plätze im Vergleich zum Vorjahr.
Die Fotografin aus den USA verbesserte sich um 1025 Plätze.
Der isländische Performance- und Multimedia-Artist verbesserte sich um 1249 Plätze.
Der aus der Ukraine stammende Fotograf verbesserte seine Position um 1126 Plätze.
Der Deutsche Mixed-Media Künstler springt 927 Plätze nach oben.
Der US-amerikanische Maler und Bildhauer verbesserte sich um 710 Plätze gegenüber dem Vorjahr.
Der 2003 verstorbene Amerikaner, setzte sich in seinem Werk hauptsächlich mit der Bildhauerei auseinander. Er gilt als Vertreter des Minimalismus. Seine Wertung im Art Report verbesserte sich um 2534 Plätze.
Die im Jahr 20120 verstorbene französisch-amerikanische Bildhauerin, die sich unter anderem mit Installationen auseinandersetzte, verbesserte ihre Position um 91 Plätze.
Der spanische Installations- und Medienkünstler verbesserte seine Platzierung um 3925 Plätze.
Die aus Lettland stammende US-amerikanische Zeichnerin, Malerin und Grafikerin verbesserte sich um 1092 Plätze.
Ai forderte die Besucher auf, ihre Reaktionen auf seine Kern-Botschaft per Twitter in die Welt zu tragen. Und ihre Fragen an den Künstler auf Video aufzuzeichnen. „Kunst“, sagt Ai Weiwei, „ist vor allem Kommunikation.“ Das kommt an – bei Kuratoren und Sammlern. Und schlägt sich auch auf die Preise nieder: „Rezessions- und Inflationsängste lassen viel Geld in den Kunstmarkt fließen“, sagt Art-Report-Autor Manfred Schumacher. Das gilt inzwischen auch für die Werke Ais: Der politische Trubel und die vielen Ausstellungen haben die Preise für seine Arbeiten weiter in die Höhe schnellen lassen. Im Februar 2011 fand ein 100-Kilogramm-Haufen der Porzellankerne den Weg ins Auktionshaus Sotheby’s. Und erzielte – als eine von neun Mini-Nachbildungen der Original-Installation – einen Preis von 415 000 Euro. Der Materialwert lag geringfügig darunter: bei rund vier Euro.
Ragnar Kjartansson - Wiederholter Weltschmerz
Schwarzer Anzug, Schmalztolle, Sinatra-Pose: Begleitet von einem Orchester vor pinkfarbenem Satinvorhang, singt ein dicklicher junger Mann mal mit geschlossenen Augen, mal mit mehr, mal mit weniger Pathos, immer wieder denselben, tristen Text: „Sorrow conquers Happiness“ – Kummer bezwingt Glück. Eine halbe Stunde geht das so, dann startet das Video wieder von vorn. Bis vor Kurzem zu sehen im Frankfurter Kunstverein – Titel der Ausstellung: „Endlose Sehnsucht, ewige Wiederkehr.“
Konzeptueller Rollentausch
Der Titel ist Programm: Sind doch Weltschmerz und Wiederholung die thematischen Dauerbrenner im Werk des 36-jährigen Isländers, der in seinen Arbeiten immer wieder bildende Kunst, Musik und Theater mischt. So entstehen Happenings, in denen sich der Isländer immer wieder selbst zum Protagonisten macht. Kjartansson schlüpft dabei in unterschiedlichste Rollen – mal als Ritter, mal als Rockstar, mal als Revolutionär, mal als der leibhaftige Tod. Und treibt sich und sein Publikum dabei immer wieder an den Rand der Erschöpfung. 53 Stunden spielte er in einer blutverschmierten Papp-Ritterrüstung ununterbrochen Orgel. Alle fünf Jahre lässt er sich vor der Bücherwand im Wohnzimmer seines Elternhauses minutenlang bespucken – von seiner Mutter. Und im Sommer 2009 inszenierte sich Kjartansson auf der Biennale von Venedig als Künstlergenie, besessen von der Suche nach dem ultimativen Bild. Sechs Monate lang mietete er sich in einen alten Palazzo ein, malte täglich ein Gemälde eines männlichen Aktmodells und ließ ansonsten die Zeit verstreichen in einem Gemisch aus lässiger Party-Location und schlampigem Künstleratelier.
Taryn Simon - Okkulter Glamour
Viele Jahre hatte Shivdutt Yadav ein Stückchen Land im indischen Uttar Pradesh bestellt. Und stellte bei einem Termin im Einwohnermeldeamt fest, dass er als Toter registriert war. Verwandte hatten ihn mithilfe bestochener Beamter für tot erklären lassen, um sich seinen Grundbesitz unter den Nagel zu reißen. Gegen seinen Tod vor Gericht gehen durfte Yadav nicht – wer offiziell als verstorben gilt, hat sein Klagerecht verwirkt.
Yadavs Schicksal ist grausame Realität – und Teil einer Fotoserie der Amerikanerin Taryn Simon, die gerade in der Neuen Nationalgalerie Berlin zu sehen war. Kleine Porträts vor cremefarbenem Hintergrund, die Ordnung im Chaos des Unrechts suggerieren – hinter scheinbarer Harmlosigkeit aber bewegende Schicksale zeigen: etwa das afrikanischer Albinos, die in Tansania gejagt und ermordet werden – wegen ihrer angeblich übernatürlichen Kräfte.
Menschenbild der Gegenwart
Arbeiten, die in vier Jahren auf Reisen durch 24 Länder weltweit entstanden und wie eine Fotoreportage oder eine wissenschaftliche Dokumentation daherkommen – aber viel tiefer gehen: Nichts weniger als das Menschenbild der Gegenwart verhandelt Taryn Simon in ihren Arbeiten – wie auch in ihrer Fotoserie „Die Unschuldigen“, die sie 2003 erstmals bekannt machte: Damals fotografierte sie von der US-Justiz unschuldig zum Tode Verurteilte am Ort ihres vermeintlichen Verbrechens. Oder in der Bilderserie „Ein amerikanischer Index des Verborgenen und Unbekannten“ über Amerikas geheime Orte – vom Hauptquartier der CIA bis zum Büro eines Ku-Klux-Clan-Mitglieds. Bilder von den Albträumen des Alltags. Oder, um es mit den Worten des Schriftstellers Salman Rushdie zu sagen: „Okkulter Glamour.“
John Baldessari - Ewiger Pionier
Gedruckt wurde er in den Dreißigerjahren, Auflage 40 000 Stück – ein 100 000-Dollar-Schein, versehen mit dem Gesicht des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson. Obwohl er nie in Umlauf kam, hatten ihn im Dezember 2011 viele Amerikaner vor Augen: auf einer Reklametafel, mitten in New York. „The first 100 000 $ I ever made“ nannte John Baldessari sein Foto der Inflationsnote. Und überlässt dem Betrachter, ob er Kunst oder Geld meint.
Vom Insidertipp zur Berühmtheit
Möglich wäre beides: Hatte er jahrzehntelang als Insidertipp gegolten, gehört der Zwei-Meter-Schlacks mit dem weißen Rauschebart heute zu den erfolgreichsten und einflussreichsten zeitgenössischen Künstlern. Der 80-Jährige gilt als Wegbereiter der Konzeptkunst, hat in fast 60 Jahren ein beeindruckendes Werk aus Gemälden, Fotos, Skulpturen, Videos und Texten geschaffen. Auf der Biennale in Venedig bekam er 2009 den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk – auch, weil er als ewiger Pionier der Sprachkunst stets die Codes – von Massenmedien und Kunstproduktion infrage stellt. Zuletzt im Amsterdamer Stedelijk Museum mit der Installation „Your name in lights“: eine 30 Meter breite LED-Tafel, auf die Besucher ihre Namen schreiben konnten – für exakt 15 Sekunden. Unverblümte Anspielung auf Andy Warhols Prognose, künftig werde jeder weltberühmt – für 15 Minuten.
Mai-Thu Perret - Projektion auf der Teekanne
Tapetenentwürfe, Keramiken, Malereien im Stile des Konstruktivismus – und eine überdimensionale, begehbare Teekanne als Projektionsfläche für eine Filminstallation, die zwei Erzählstränge miteinander verwebt: den russischen Science-Fiction-Roman „We“, der im 26. Jahrhundert spielt, und die Geschichte eines polnischen Bildhauer-Paares des frühen 20. Jahrhunderts. The Adding Machine heißt die Ausstellung, die im Frühjahr 2011 im Kunsthaus im Aargau das multimediale Schaffen der gebürtigen Genferin Mai-Thu Perret zeigte. Und deutlich machte: Hier geht es nicht um einzelne Kunstwerke, sondern ein komplett vernetztes Kunstuniversum. „Das Leben ist wie eine solche Maschine“, sagt Perret. „Dinge addieren sich und bilden ein Ganzes.“
Cut-Ups der Gegenwart
Ganz im Sinne des Schriftstellers William S. Borroughs: Der Amerikaner war bekannt dafür, Manuskriptseiten zu zerschneiden, um sie dann nach dem Zufallsprinzip wieder neu zu ordnen. Mit diesem Prinzip war Perret 2011 höchst erfolgreich: Sie hatte mehrere Ausstellungen in der Schweiz, heimste den mit 80 000 Franken dotierten Züricher Kunstpreis ein und war mit zwei Arbeiten auf der Biennale in Venedig zu sehen.