Jo Lendle, der Hanser-Verleger, hat einmal in der WirtschaftsWoche bekannt, dass er zu Aufbau und zur Pflege seines Privatvermögens ein ironisch-distanziertes Verhältnis hat. Auf die Frage „Aktien oder Gold?“ erwiderte er mit sanfter Koketterie: „Müder Blick meines Bankberaters: Anlegen ist nicht so Ihr Ding, oder?“ Das ist herrlich gekontert und trefflich ausgedrückt. Denn es führt weg von den Kategorien „Risikoscheu“, „Verlustaversion“ und „Finanz-Analphabetismus“, mit denen Ökonomen, Unternehmer und Banker die Deutschen seit Jahren traktieren, auch weg von den küchenpsychologischen Befunden der Vulgärliberalen, in Deutschland gediehen „Reichtumsneid“ und „antikapitalistische Reflexe“ besonders gut.
„Anlegen ist nicht so Ihr Ding“ – das ist eine profane Alltagsbeobachtung und zugleich eine Tiefenbohrung in die Kollektivseele: Die meisten Deutschen finden den Erwerb und die Vermehrung von Geld, überhaupt alles, was nach Finanzwelt riecht, nicht wirklich spannend. Mehr noch: Gelddinge sind ihnen so lästig wie eine Stubenfliege. Sie sortieren den Finanzteil der Zeitung als Erstes aus, reichen die Steuererklärung an ihren Steuerberater weiter, wechseln weder Krankenkasse noch Stromanbieter, überfliegen widerwillig ihre Kontoauszüge und entsorgen die monatlich ins Haus flatternden Anlagetipps der Sparkasse mit den Werbeprospekten. Vier von zehn Deutschen halten Geldanlage für ein notwendiges Übel, so eine Studie der großen deutschen Direktbanken. Aber warum?
Nicht, dass die Deutschen Wohlstand und Prosperität verachten würden. Im Gegenteil, sie wissen sehr genau, dass materielle Sicherheit und stabile Finanzen die Grundbedingungen für die Kultivierung eines guten, schönen Lebens sind. Eben drum kalkulieren sie mit dem, was sie haben, statt auf das zu spekulieren, was sie haben könnten.
Der Deutsche lebt gern im Indikativ. Er will lieber keine Überraschungen erleben, als zwei gute und eine böse. Er freut sich auf die nächste Gehaltsüberweisung. Sie beschert ihm, Monat für Monat, das unendliche Glück, Wochenende für Wochenende mit seinen Kindern im Schlosspark spazieren gehen, auf dem Markt einkaufen oder im Manufactum-Katalog blättern zu können – das unendliche Glück, sich in seiner Freizeit nicht mit fallenden Ölpreisen und Deflationsängsten belasten, sein Privatleben nicht mit Stop-Loss-Ordern und Schulter-Kopf-Schulter-Formationen behelligen zu müssen.
Aktienkultur in Deutschland
Menschen mit Aktieninvestments im Jahr 2014: 8,4 Millionen
Vorjahr: 8,9 Millionen
Anteil der Bevölkerung über 14 Jahren im Jahr 2014: 13,1 Prozent
Vorjahr: 13,8 Prozent
Wie die deutschen Aktionäre investiert sind:
4,3 Millionen Menschen besitzen nur Aktienfonds.
1,6 Millionen Menschen besitzen Aktien und Aktienfonds.
2,5 Millionen Menschen besitzen nur Aktien.
Seit 2001 haben rund 4,4 Millionen Menschen dem Aktienmarkt den Rücken gekehrt.
Aktionärsanzahl 2001: 12,8 Millionen
Aktionärsanzahl 2014: 8,4 Millionen
Das Interesse an Aktien hat in den vergangenen Jahren besonders bei den Jüngeren stark nachgelassen.
Anteil der Aktien- und Aktienfondsbesitzer nach Altersgruppen:
20-29 Jährige: 7,2 Prozent (2001: 17,5 Prozent)
30-39 Jährige: 12,1 Prozent (2001: 27,9 Prozent)
40-49 Jährige: 17,2 Prozent (2001: 25,5 Prozent)
50-59 Jährige: 17,1 Prozent (2001: 24,5 Prozent)
60-69 Jährige: 13,6 Prozent (2001: 14,4 Prozent)
Anteil von Aktienbesitzer nach beruflicher Position:
Leitende Angestellte: 28,4 Prozent
Leitende Beamte: 30,1 Prozent
Selbstständige/Freie Berufe: 26,0 Prozent
Sonstige Beamte: 29,5 Prozent
Öffentlicher Dienst: 22,7 Prozent
Sonstige Angestellte: 14,8 Prozent
Rentner/Pensionäre: 12,3 Prozent
Studenten: 4,3 Prozent
Facharbeiter: 8,9 Prozent
Selbstständige Landwirte: 23,5 Prozent
Schüler: 1,9 Prozent
Sonstige Arbeiter: 4,2 Prozent
Auszubildende: 4,6 Prozent
Menschen mit höherem Einkommen, haben ein höhere Interesse an Aktien.
Anteil von Aktien und Aktienfondsbesitzern nach Nettohaushaltseinkommen:
750-1.250 Euro: 2,5 Prozent
1.250-2.000 Euro: 6,9 Prozent
2.000-3.000 Euro: 24,6 Prozent
3.000-4.000 Euro: 18,5 Prozent
Über 4.000 Euro: 34,3 Prozent
Alte Bundesländer: 13,8 Prozent besitzen Aktieninvestments
Neue Bundesländer: 10,3 Prozent besitzen Aktieninvestments
Gesamt: 13,1 Prozent
Es ist den Deutschen so unverständlich wie egal, dass Finanzverwalter, Spekulanten (und Börsenjournalisten) ihr ausgeprägtes Desinteresse wie eine narzisstische Kränkung empfinden: Aber der Dax-Index hat seinen Wert seit dem jüngsten Tief vor sechs Jahren verdreifacht! Die Unternehmen schütten reiche Dividenden aus! Warum aber ist hierzulande nur jeder neunte Arbeitnehmer im Besitz von Unternehmensanteilen, während es in Schweden, Großbritannien und den USA jeder dritte oder vierte ist? Hätten die Deutschen von 2001 an nur jeden vierten Spar-Euro in Aktien investiert, hätten sie zwei Jahre lang ihre Benzinrechnung bezahlen können! Und?