WirtschaftsWoche: Herr Ehrhardt, der Dax hat die 10.000 Punkte erreicht. Kommt die nächste Stufe der Rally?
Ehrhardt: Man sollte diese runden Marken nicht unterschätzen. Sie sind oft zähe Widerstände; fallen sie aber, kann darauf ein langer, stabiler Aufwärtstrend folgen, weil mehr Leute ermutigt werden, Aktien zu kaufen. Zauderer sehen: Die Marke hält, sie legen ihre Bedenken ab. Beim Dow Jones zumindest war es so. Der Dow nahm drei Anläufe und brauchte zehn Jahre – 1972 bis 1982 –, um die damals gigantisch erscheinende Marke von 1000 Punkten zu überwinden.
1982 stand die Weltwirtschaft am Beginn des Globalisierungsbooms, die Börsen profitierten vom Abbau von Handelsbeschränkungen.
Insofern ist das schwer mit der heutigen Situation vergleichbar, schon richtig. Vor allem waren Aktien damals billig; nach der langen Seitwärtsphase von 1966 bis 1980 gab es viele Papiere mit einstelligen Kurs-Gewinn-Verhältnissen (KGV) und hohen Dividendenrenditen.
Das ist heute anders?
Ja, Aktien sind im historischen Vergleich nicht mehr günstig. Die KGVs sind zwar noch nicht so hoch wie in echten Blasenzeiten. In Deutschland hatten Aktien 1999/2000 ein durchschnittliches KGV von fast 45; zehn Jahre davor, in der japanischen Spekulationsblase, waren die Werte in Tokio sogar noch teurer. Heute liegen die Bewertungen eher im historischen Mittel oder leicht darüber. Aber: Die Kurse sind jetzt mehr als zwei Jahre lang gestiegen, während die Unternehmensgewinne stagniert haben. Das macht sich in gestiegenen Bewertungen bemerkbar. Wirklich günstige Aktien findet man kaum noch. Vor allem arbeiten die meisten Unternehmen schon mit rekordhohen Gewinnmargen, das macht ihre Gewinne anfällig und die Aktien verwundbar. Trotzdem können die Kurse, unter dem Gesichtspunkt der Bewertungen, gut und gerne noch 20, 30 Prozent steigen, bevor es wirklich bedenklich wird.
Zur Person
Ehrhardt, 72, ist Gründer, Hauptaktionär und Vorstandschef einer der größten unabhängigen Vermögensverwaltungen Europas, der DJE Kapital aus Pullach bei München. Zusätzlich berät er zahlreiche Fonds. Ehrhardt gilt als der erfahrenste Geldmanager Deutschlands. Er promovierte 1974 über den Einfluss der Geldpolitik auf die Aktienmärkte.
Was macht Sie da so zuversichtlich?
Erstens ist die Stimmung noch nicht euphorisch genug, es ist keine Hausfrauen- oder Taxifahrer-Hausse wie Ende der Neunzigerjahre. Damals redete alle Welt von Aktien; Börsenlaien verschuldeten sich, um Aktien auf Pump zu kaufen. Die Unternehmenschefs vom Neuen Markt waren Popstars, es herrschte Goldgräberstimmung. So weit sind wir bei Weitem nicht. Die Aktie gilt breiten Anlegerschichten noch immer als riskant, übrigens nicht nur Kleinsparern, sondern besonders auch den Großen, wie etwa Versicherungen.
Also fehlt noch das große Finale vor dem nächsten Crash?
Ich denke schon. Zudem enden die meisten lang anhaltenden Haussen nicht, weil den Marktteilnehmern auf einmal dämmert, dass Aktien zu teuer seien und sie anfangen zu verkaufen.
Nicht? Viele glauben das.
Das wird meist als Erklärung im Nachhinein für einen Abschwung angeboten. Eine fundamentale Überbewertung ist fast nie der Auslöser einer Talfahrt.
"Aktien sind der Einäugige unter den Blinden"
Was dann?
Die Geldpolitik, genauer gesagt: die Versorgung der Märkte mit frischem Geld und die Zinsen. Beides beeinflusst die Kurse sehr viel stärker als die Bewertung von Aktien. Ich habe die Börsen-Wendepunkte der vergangenen 40 Jahre untersucht und festgestellt, dass langjährige Haussen immer erst endeten, nachdem zuvor mehrfach und substanziell die Zinsen erhöht worden waren. Nur wenn Sie also glauben, dass in den nächsten Monaten die Zinsen steigen, sollten Sie raus aus Aktien.
Und was glauben Sie?
Ich denke, dass die Zinsen nahezu weltweit noch für lange Zeit niedrig bleiben werden. Denn die Schuldenlast der Staaten hat sich seit Beginn der Krise nicht verringert – im Gegenteil. Würden die Notenbanken die Zinsen substanziell steigen lassen, drohten unmittelbar Staatspleiten. Ex-US-Notenbank-Präsident Ben Bernanke soll auf einer Party jüngst ausgeplaudert haben, er sei der Meinung, dass es keine nennenswert höheren Zinsen geben werde, solange er lebe. Er ist erst 60. Etwas plakativ, aber durchaus denkbar.
Die niedrigen Zinsen dürften also weiter dafür sorgen, dass Anleger mehr Aktien kaufen und die Hausse befeuern?
Ja, auf lange Sicht schon. Die Niedrigzinsen machen Aktien nun mal relativ gesehen attraktiver. Vor allem, weil die Alternativen zur Aktie alle noch teurer sind: Eine Immobilie in guter Lage kostet umgerechnet den 25- bis 35-fachen Jahresgewinn; sie sollte eigentlich günstiger sein als eine gute Aktie, weil sie nicht so liquide handelbar ist. Eine Staatsanleihe, die zwei Prozent Zins bringt, hat umgerechnet ein KGV von 50. Aktien sind preislich der Einäugige unter den Blinden.
Also sollte man welche haben?
Ich denke, ganz ohne geht es nicht. Und die von den meisten Experten seit drei Jahren gebetsmühlenartig herbeigeredete „Great Rotation“, die massenhafte Flucht von Großanlegern wie Versicherungen und Pensionsfonds aus Anleihen, hat noch kaum stattgefunden. Es ist nicht viel passiert, wenn man deren jetzige Aktienquoten mit den Neunzigern vergleicht. Das Gros der Mittel bleibt am Rentenmarkt investiert. In den ersten Monaten 2014 gab es sogar eine leicht rückläufige Tendenz: Renten- und Geldmarktfonds hatten wieder netto Zuflüsse, vor allem in den USA. Die Manager großer Mischfonds und -portfolios in den USA haben derzeit sehr hohe Cash-Quoten. Da ist noch Munition für steigende Kurse.
Und was macht der deutsche Privatanleger?
Der ist diesmal gar nicht dabei; die Zahl der freien Aktionäre sinkt und sinkt, obwohl die Kurse steigen. Die Gefahr besteht durchaus, dass der deutsche Privatanleger wieder erst einsteigt, wenn die Party schon vorbei ist.
Warum sollte die Party denn vorbei sein?
Vorbei noch nicht; aber mit einer Pause in den kommenden Wochen oder Monaten rechne ich. Das Wachstum der Geldmengen und, davon abgeleitet, die Überschussliquidität, also die Liquidität, die nicht zur Finanzierung des Wirtschaftswachstums benötigt wird und zum Teil an die Kapitalmärkte fließt, signalisieren dies. Das Wachstum der Geldmenge M1...
"Der monetäre Rückenwind lässt nach"
...außerhalb der Banken zirkulierendes Bargeld und täglich kündbare Einlagen...
...ist einer der besten Börsenindikatoren, die ich kenne. Es läuft den Kursen um sechs Monate voraus, es flacht sich in der Euro-Zone deutlich ab. Zuletzt betrug es gegenüber dem Vorjahr noch 5,6 Prozent, vor einem Jahr waren es noch fast neun, 2009 auch schon mal 13 Prozent.
Wie sieht es mit der Geldversorgung der Börsen aktuell aus?
Da müssen wir nach Wirtschaftsräumen differenzieren. Die Stammtischmeinung, es werde weltweit immerzu Geld gedruckt, die Geldmenge explodiere, und das fließe alles in die Kapitalmärkte, stimmt so pauschal nicht. Ansatzweise ist das in den USA der Fall, hierzulande nicht. Unbestritten ist, dass die lockere Geldpolitik der vergangenen Jahre den Aktienkursen geholfen hat. Sehr viel besser kann es für die Börse monetär aber nun nicht mehr werden. Da drohen Enttäuschungen, sollte die Geldpolitik auch nur geringfügig konservativer sein als von den Anlegern erwartet.
Und, wird sie konservativer?
Der monetäre Rückenwind lässt jedenfalls nach. Die USA verringern ihre Anleihekäufe. In Japan verpuffen die Gelddruckprogramme, weil die Banken das neue Geld bei der Notenbank zurückparken, anstatt Kredite zu vergeben – ähnlich wie in Südeuropa, wo starke deflationäre Kräfte wirken. Und in den Schwellenländern ist das Geldmengenwachstum eingebrochen. Insgesamt kann also von einer Liquiditätsflut derzeit keine Rede sein.
Was sollten Privatanleger tun?
Wer noch keine Aktien hat, sollte trotz der gestiegenen Kurse einige kaufen. Wie viel, hängt stark von persönlichen Umständen wie Alter, Anlageziele und Risikofreude ab. 25 Prozent des Vermögens in Aktien ist aber sicher nicht zu viel.
Aber eine ganze Menge, wenn man von null kommt...
Man sollte jetzt auch nicht alles auf einmal investieren, sondern in mehreren kleinen Schritten, besonders nach Rückschlägen. Mit solchen ist jederzeit zu rechnen. Generell wäre ich derzeit vorsichtig mit deutschen Aktien, lieber sollte man international breit gestreut kaufen.
Warum das?
Der Dax hat in den letzten sechs Jahren stärker als andere Börsen von zwei starken Treibern profitiert: Von der lockeren Geldpolitik in den USA und dem Boom Chinas; beide aber schwächen sich ab. Gekauft haben im Dax vor allem angelsächsische Großinvestoren, munitioniert mit dem frischen Geld der US-Notenbank. Teilweise sind sie auch im Nebenwerteindex MDax engagiert, der noch teurer ist als der Dax. Die Amerikaner sind jetzt entsprechend stark in Europa und speziell in Deutschland investiert und dürften künftig eher daheim kaufen, auch weil sich die US-Konjunktur besser entwickelt als die europäische. US-Anleger, die jetzt aus Dax-Aktien aussteigen, würden zudem gute Währungsgewinne realisieren.
"China droht zum Risikofaktor zu werden"
Und China?
China droht vom Treiber zum Risikofaktor für deutsche Aktien zu werden. Ich glaube zwar nicht an eine harte Landung, aber die US-Industrie ist weniger abhängig von China als die deutsche, für die China nach Frankreich und den USA bereits der drittwichtigste Markt ist. Das macht den Dax derzeit wesentlich riskanter als die großen US-Indizes, die viel Technologie, Pharma und starke Binnenwerte enthalten. Defensive, weltweit aktive Unternehmen haben wir in Deutschland kaum. Große Binnenwerte auch nicht.
Was droht in China?
Der Immobilienboom könnte ein abruptes Ende nehmen. Die Bautätigkeit nahm 2013 fast zwölf Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung ein – viel zu viel und annähernd so hoch wie in Spanien oder Irland zu Zeiten der dortigen Immobilienblasen. In China kaufen viele Menschen Wohnungen, ohne sie je gesehen zu haben, nur, um sie mit möglichst viel Gewinn schnell wieder zu verkaufen, ein klares Blasensymptom. Erste Vorboten eines Crashs gibt es schon, etwa geringere Kreditvergabe und rückläufige Bautätigkeit.
Was hat die Immobilienblase in China mit dem Dax zu tun?
Viele Wohnungen in China stehen leer, da sie ja reine Spekulationsobjekte sind. Können diese nicht wie gedacht teurer verkauft werden, werden viele Spekulanten ihre Kredite nicht mehr bedienen. Die Banken und Schattenbanken, die viel finanziert haben, müssten sie abschreiben. Sie kämen selbst in Schieflage, die Kreditvergabe an die Industrie und Privatleute käme zum Erliegen – wie in der US-Subprimekrise eben. Das würde die Wirtschaft der gesamten Region in Mitleidenschaft ziehen und damit auch die deutschen Exporte. Die starke Abhängigkeit vom Export und von Asien kann also für den Dax zum Bumerang werden. Aber Asien macht mir noch aus anderen Gründen Sorge.
Aus welchen denn?
Ich spreche viel mit Managern asiatischer Unternehmen. Alle haben Angst vor China. Sie fürchten, dass China seinen Machtbereich und den Zugang zu Rohstoffen in der Region aggressiv ausweiten könnte.
Sie reden von Krieg?
Das ist in der Tat die Angst vieler, ja. Mit Vietnam gibt es Spannungen, mit Korea, auch mit Japan. Auch die Annäherung Chinas an Russland sehen viele mit Sorge. Die geopolitischen Risiken – auch die Ukraine-Krise ist ja alles andere als ausgestanden – und China sind die beiden großen Risiken für den Dax. Treten sie nicht ein, sollten Aktien in den kommenden Jahren besser laufen als andere Anlageformen; kommt es aber zur Eskalation der einen oder anderen Krise, würde speziell der deutsche Aktienmarkt leiden.
Wie sollen Anleger mit dieser Situation umgehen?
Um es klar zu sagen: Der beste Zeitpunkt, auf breiter Front in Aktien zu gehen, ist vorbei. Voll rein in Aktien muss man, wenn die Geldpolitik gelockert wird, die Zinsen gesenkt und die Konjunktur noch unten ist. Dann haben Aktien den größten Hebel. Wenn die Konjunktur bereits wieder brummt, ist das Beste gelaufen.
"Breit diversifizieren, Gold beimischen"
Der beste Zeitpunkt ist vorbei, aber was ist die Alternative zu Aktien?
Das ist der Punkt. Wir erleben die historisch seltene Konstellation, dass Zinsprodukte wie Anleihen und Sparkonten auf Jahre hinaus einfach nichts bringen. Man muss also Aktien haben, sonst wird man kalt enteignet, weil die Inflation höher liegt als die Renditen.
Derzeit ist die Inflation schwach.
Ja, aber auch bei 1,5 Prozent Inflation verlieren Sie mit 0,2 Prozent Rendite nach Steuern in ihrem Depot Kaufkraft, genauso wie bei 10,0 Prozent Inflation und acht Prozent Zins. Die Finanzrepression hat viele Spielarten, aber sie ist Fakt. Die Lösung heißt – auch, wenn das keiner mehr hören will – breit diversifizieren.
Was schlagen Sie vor?
Mit einem Drittel Aktien, einem Drittel Immobilien und einem Drittel kurzfristigen Zinsanlagen machen Sie nicht viel falsch.
Gold?
Wird weiter eher schwach tendieren; kurzfristig sieht Gold technisch etwas überverkauft aus, ich sehe aber nicht, was den Goldpreis mittelfristig sehr stark treiben sollte. Als Krisenschutz für den Fall der Fälle können Anleger aber ein wenig Gold beimischen.
Welche Aktien?
Den Dax würde ich nicht mehr kaufen; klar, es gibt Unternehmen, deren Geschäft selbst im Fall eines China-Crashs laufen würde, etwa die Post, aber da sind Hinz und Kunz schon drin. Die Börsen in den USA und Großbritannien gefallen mir besser. Weltweit sind die Gewinnmargen der Unternehmen und die Cash-Flow-Renditen aber nahezu ausgereizt. Was wir nun an der Börse brauchen, ist neues Umsatzwachstum. Angelsächsische Unternehmen scheinen tatsächlich anzufangen zu investieren, was langfristig gut für die Konjunktur wäre, die US-Maschinen und andere Ausrüstungen sind im Schnitt über 20 Jahre alt. Die schlechte dortige Produktivität könnte verbessert werden.
Investitionen kosten Geld. Wenn Unternehmen investieren, drohen niedrigere Dividenden und Gewinne, also wären höhere KGVs die Folge.
Richtig, aber mit etwas Verzögerung würden die Aktien dann über Umsatzwachstum neuen Schub kriegen. Auch diese Verzögerung spricht dafür, größere Käufe erst nach Rücksetzern zu wagen. Europäische Titel würde ich nur noch sehr wenige kaufen. Ölwerte wie Total oder Statoil gefallen uns noch gut, sie haben die Hausse kaum mitgemacht und investieren weniger, was steigende Cash-Flows bringt. Generell ist Europa aber schon gut gelaufen. In der Euro-Krise ist es ruhig; sie kann aber jederzeit wieder aufflammen. Die Probleme, Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit, sind ungelöst. Eine neue Zuspitzung droht, wenn sich bei den nächsten Wahlen der Trend zu rechtspopulistischen, euroskeptischen Parteien manifestiert und diese mit einem Euro-Austritt ernst machen.