In der griechischen Mythologie ist eine Sirene ein weibliches Fabelwesen, das durch seinen betörenden Gesang – den Sirenen-Gesang –, aber auch durch seine Fähigkeit, alles auf Erden Geschehende offenbaren zu können, vorbeifahrende Schiffer anlockt, um sie dann zu töten. In der Finanzmarktbranche gibt es einen sirenenähnlichen Lockgesang, der so manchen Investoren betört und ihm – wenn auch gottlob nicht das Leben kostet – eine unbefriedigende Investitionsrendite beschert. Dieser Lockgesang heißt: Liquidität.
Wir alle möchten „liquide“ sein, wollen uns jederzeit das kaufen können, was wir zu kaufen wünschen, und jederzeit unsere Rechnungen vollumfänglich bezahlen können. So gesehen ist hohe Liquidität „gut“, geringe Liquidität „schlecht“. Aber auch viele private und professionelle Investoren bevorzugen es, liquide zu sein. Beispielsweise in angespannten Marktphasen: Wer dann liquide ist, kann meist sehr günstig an gute Unternehmensaktien kommen und dadurch seine Investitionsrendite beflügeln.
Aber auch in normalen Marktphasen ist vielen Investoren die Liquidität ihrer Investments sehr wichtig. Wenn beispielsweise eine Aktie wider Erwarten nicht gut läuft, will man sie rasch und problemlos zum Marktpreis verkaufen können. Ist eine Aktie liquide, kann man auch eine Investment-Position in ihr rasch und ohne großen Preisauftrieb aufbauen. So gesehen lässt sich die von vielen Investoren gewünschte, nicht selten sogar als unverzichtbar angesehene Liquidität wie folgt beschreiben:
Zur Person
Dr. Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt der Degussa sowie Mitgründer und volkswirtschaftlicher Berater und Mitgründer des P&R REAL VALUE Fonds. Er ist zudem Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth. In seiner auf wiwo.de erscheinenden Kolumne "Intelligent investieren" widmet er sich alle 14 Tage (immer mittwochs) den grundlegenden Irrtümern und Erkenntnissen der Geldanlage.
Eine Aktie ist liquide, wenn der Investor sie jederzeit kaufen und verkaufen kann – und zwar auch in großen Stückzahlen –, ohne dass dadurch der Marktpreise der Aktie nennenswert beeinflusst wird. Entsprechend ist eine Aktie wenig liquide, wenn sie nicht jederzeit in der vom Investor gewünschten Anzahl ge- oder verkauft werden kann, beziehungsweise wenn schon relativ kleine Kauf- und Verkaufsbeträge zu starken Börsenkursausschlägen nach oben und unten führen.
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Liquidität nicht per se gegeben ist, sondern dass sie zum Beispiel abhängt von den vorherrschenden „Umständen“ ist. In Bullen-Märkten beispielsweise, in denen die Euphorie groß ist, steigt die Liquidität. Nicht nur Börsenumsätze der etablierten „Blue Chips“-Aktien steigen, auch Aktien mit einer relativ geringen Marktkapitalisierung („Nebenwerte“) werden zusehends liquider. Anders in Bären-Märkten: Die Liquidität nimmt ab, für Blue-Chips-Aktien und meist verstärkt auch für Nebenwerte.
Liquider Handel ist kein Erfolgsgarant
Hört und liest man die Kommentare vieler Börsianer, könnte man den Eindruck gewinnen, eine hohe Liquidität einer Aktie sei ein wichtiger, ja ein entscheidender Faktor für den Investitionserfolg. Doch ist das wirklich so? Der Investor sollte sich in der Tat einmal die Frage stellen: Welche Beziehung besteht zwischen der Liquidität einer Aktie (im oben verstandenen Sinne) und der Fähigkeit des Unternehmens, erfolgreich zu sein, also für lange Zeit eine hohe Rendite auf das Eigenkapital zu erzielen?
Die Liquidität der Aktien von bereits erfolgreichen und etablierten Unternehmen ist in der Regel hoch. Zum Beispiel hatte Anfang Februar 2018 das US-Unternehmen Apple Inc. eine Marktkapitalisierung von gut 800 Mrd. US-Dollar bei mehr als 5,1 Mrd. ausstehenden Anteilsscheinen. Die meisten Investoren können folglich ihre Apple-Positionen jederzeit auf- oder abbauen, ohne dass sie dadurch den Apple-Börsenkurs nennenswert in die ein oder andere Richtung beeinflussen.
Es gab jedoch eine Zeit, in der die Apple-Aktie eine geringe Liquidität hatte: zu der Zeit, als das Unternehmen noch jung war, bevor es durchgestartet ist. Hätte der Investor zu diesem frühen Zeitpunkt, als die Aktie noch eine geringe Liquidität hatte, investiert, wäre er mit einer hohen Rendite belohnt worden: Wer Ende 2002 eine Apple Aktie gekauft hat, hat eine durchschnittliche Jahresrendite von 39 Prozent (ohne Dividende) erzielt. Zum Vergleich: Mit einer Investition in den S&P 500 hätte er jahresdurchschnittlich 7,5 Prozent eingefahren.
Das Beispiel deutet es an: Die Liquidität einer Aktie, ob hoch oder niedrig, ist kein verlässlicher Indikator, mit dem der Investor den künftigen Erfolg des Unternehmens und der Rendite, die es ihm bescheren wird, abschätzen kann. Ein Aktie, die heute wenig liquide ist, weil das Unternehmen noch klein ist, sich in einer frühen Phase seines Lebenszyklus‘ befindet, kann zum „Star“ werden. Möglich ist aber auch, dass die wenig liquide Aktie zum „Flop“ mutiert, wenn es der Firma nicht gelingt, sich am Markt durchzusetzen.