Intelligent investieren

Die dunkle Seite der Zinsmanipulation

Thorsten Polleit
Thorsten Polleit Chefvolkswirt der Degussa

Ist es das Licht am Ende des Tunnels oder ein entgegenkommender Zug? Diese Frage drängt sich dem umsichtigen Investor zwangsläufig auf, sobald er die weltweite Konjunktur- und Finanzmarktentwicklung zu deuten versucht.

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Das Hochhaus der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main Quelle: dpa

Auf der einen Seite ist nicht zu übersehen, dass die Konjunkturen wieder angezogen haben. Nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch in Europa, Japan und China arbeiten sich die Volkswirtschaften aus dem tiefen Produktions- und Beschäftigungsloch heraus, das die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 verursacht hatte. Die Zuversicht ist zurück und zeigt sich im markanten Ansteigen der Aktienkurse und Immobilienpreise.

Auf der anderen Seite müssen den umsichtigen Investor allerdings auch Zweifel beschleichen: Die Konjunkturschub geht einher mit einer bislang noch nicht dagewesenen Tiefzinspolitik. Die Zentralbanken haben die Zinsen mit aller Gewalt nach unten gezerrt: Sie haben sie auf ein Niveau heruntermanipuliert, das ohne Zweifel unter dem Zinsniveau liegt, das sich einstellen würde, wenn die Zentralbanken nicht in die Zinsmärkte eingreifen würden. Die derart künstlich gedrückten Zinsen haben weitreichende Folgen.

Symptome der Zinsmanipulation

Sie haben die Unternehmen ermutigt Investitionsprojekte anzugehen, die ohne die niedrigen Zinsen nicht angegangen worden wären – weil sie bei unverzerrtem Zins schlichtweg nicht sinnvoll wären. Vor allem längerfristige, in der Regel eher risikobehaftete Investitionen werden dadurch in Gang gesetzt: Beispielsweise Investitionen, deren Erfolgsträchtigkeit sich erst nach vielen Jahren zeigt. Der künstlich gedrückte Zins erhöht nämlich den Barwert von Gewinnen, die in der entfernten Zukunft liegen – und hübscht so die Investitionsattraktivität auf.  

Deutsche mögen Gold, halten aber am Sparbuch fest
Fragt man die Deutschen nach attraktiven Anlageformen, sind sie sich weitgehend einig: Das Eigenheim, die betriebliche Altersvorsorge und Gold. Trotzdem setzt das Gros immer noch auf renditearme Sparbücher, Tages- und Festgeldkonten, wie das Investmentbarometer der GfK zeigt. Hier erfahren Sie, wie groß die Diskrepanz zwischen Einschätzung und Umsetzung ausfällt.Zur Studie: Seit 1999 untersucht das GfK-Investmentbarometer, wie sich Privatanleger in den USA und Europa verhalten. Für die aktuelle Studie haben die Konsumforscher im November 2016 in Deutschland, den USA, Italien, Frankreich und Großbritannien rund 5000 Menschen danach befragt, welche Finanzanlagen die Menschen besitzen und wie attraktiv sie verschiedene Sparmöglichkeiten und Finanzprodukte finden. Allein in Deutschland wurden 2000 Menschen befragt. Quelle: dpa
Rang 1: ImmobilienDie attraktivste Form der Geldanlage ist für die Deutschen die eigene Immobilie. 76 Prozent der Befragten gaben an, dass Investitionen in eine private Wohnung oder ein Haus attraktiv oder sehr attraktiv seien. De facto haben hierzulande aber nur 46 Prozent ihr Geld in eine Immobilie investiert. Auch für die Franzosen, Italiener und Briten sind Immobilien die attraktivste Form der Geldanlage. Quelle: dpa
Rang 2: Betriebliche AltersvorsorgeUm sich auf dem Altenteil nicht auf die gesetzliche Rente verlassen zu müssen, sorgen Millionen Bundesbürger vor. Die beliebteste Form: die betriebliche Altersvorsorge, auf die seit 2002 jeder Arbeitnehmer qua Gesetz Anspruch hat. Arbeitnehmer können einen Teil ihres Gehalts oder Sonderzahlungen als Beiträge in ihre betriebliche Altersvorsorge einzahlen. Der Arbeitgeber wiederum legt diesen Betrag für die Arbeitnehmer an – der Arbeitnehmer spart zudem Steuern und Sozialabgaben. 42 Prozent der Befragten gab an, die betriebliche Altersvorsorge für attraktiv oder sehr attraktiv zu halten. Die Realität zeigt: Aktuell nutzt sie nicht einmal jeder Fünfte. Nur 18 Prozent sind es. Quelle: obs
Rang 3: GoldGold gilt vor allem in unsicheren Zeiten als sichere Anlageform. 38 Prozent der Deutschen finden es als Anlageform attraktiv. Allerdings sind es nur 6 Prozent, die ihr Geld wirklich in Gold anlegen – nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität so groß. Quelle: REUTERS
Rang 4: BausparvertragDer Bausparvertrag ist insbesondere bei den Deutschen beliebt – was laut den Autoren das Bedürfnis der Deutschen nach sicheren Anlagen unterstreicht. 32 Prozent geben an, Bausparen attraktiv oder sehr attraktiv zu finden – und 29 Prozent legen ihr Geld auch wirklich so an. Quelle: dpa
Rang 5: Private RentenversicherungDie private Rentenversicherung sagt immerhin 28 Prozent der Deutschen als Form der Geldanlage zu. 21 Prozent der Befragten sorgen tatsächlich privat für ihre Rente vor. Quelle: dpa
Rang 6: Private KapitallebensversicherungDie private Kapitallebensversicherung ist eine Kombination aus Kapitalaufbau und Hinterbliebenenschutz. 21 Prozent der Befragten empfindet sie als eine attraktive Geldanlage – genauso viele legen einen Teil ihres Geldes auch dort an. Quelle: dpa

Zudem treiben die niedrigen Zinsen die Preise der Vermögensgüter – wie Aktien, Häuser und Grundstücke – in die Höhe: Die Summe der abgezinsten künftigen Gewinne steigt an und damit auch die Preise der Vermögensgüter. Steigende Aktienkurse verbilligen die Eigenkapitalkosten der Unternehmen: Um an neues Eigenkapital zu gelangen, müssen sie vergleichsweise wenig Aktien verkaufen, und die Kapitalverwässerung für die Altaktionäre fällt gering aus. Die Fähigkeit der Unternehmen, neue Investitionsrisiken einzugehen, nimmt zu.

Steigende Immobilienpreise sorgen nicht nur für eine zunehmende Bautätigkeit und damit eine Konjunkturbelebung. Sie ermuntern auch zum kreditfinanzierten Eigenheimkauf, und das schiebt die Immobilienpreise zusätzlich in die Höhe. Erhöhte Beleihungswerte vergrößern den Verschuldungsspielraum der Immobilienbesitzer. Die Privaten können vermehrt auf Pump konsumieren. Unternehmen kommen in den Genuss von Buchgewinnen aus ihren Immobilienbeständen, und das polstert ihr Eigenkapital auf.  

Und nicht zuletzt sorgen die künstlich gesenkten Zinsen im Kreditmarkt für eine Rückkehr des Vertrauens. Die Verschuldeten können fällige Kredite durch neue Kredite ablösen, die einen niedrigeren Zins tragen. Auf diese Weise verringern sich ihre Zinsaufwendungen – und ihre Schuldentragfähigkeit verbessert sich. Kreditgeber sind darum auch bereit, zusätzliche Kredite zu gewähren. Die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken hält folglich das Verschuldungskarussell in Gang und lässt die Verschuldung in der Volkswirtschaft weiter ansteigen.

Verschuldungsaufbau statt -abbau

Genau das zeigt auch die internationale Datenlage: Die gesamte Verschuldung der privaten und der Staaten (ohne die Verschuldung des Banken- und Finanzsektors) lag Ende 2007 noch bei 212 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes (BIP). Ende 2016 lag sie allerdings schon bei gut 265 Prozent des Welt-BIP. Die Botschaft dieser Zahlen: Die Zentralbanken haben die Krise, die sie durch ihre Politik der Schuldenvermehrung angezettelt haben, „erfolgreich bekämpft“, in dem sie Anreize für eine noch höhere Verschuldung gegeben haben.

 

 

Dass die Zentralbanken für Verschuldungsaufbau sorgen – und einem Verschuldungsabbau entgegenarbeiten –, hat einen Grund: Versiegt der Kreditstrom, gerät die aufgetürmte Schuldenpyramide ins Wanken, stürzt wohlmöglich in sich zusammen und reißt die Volkswirtschaften mit sich in den Abgrund. Um das zu verhindern, haben sie die Zinsen so stark wie nie zuvor gesenkt – und müssen sie jetzt auch weiter niedrig halten. Das ist die unangenehme Wahrheit über die Funktionsweise des internationalen ungedeckten Geldsystems.

Für den globalen Konjunkturschub und natürlich auch für das Kursfeuerwerk an den Börsen und Immobilienmärkten sind die niedrigen Zinsen ein ganz wesentlicher Treiber. Die Volkswirtschaften hängen mehr denn je davon ab, dass die Zinsen niedrig bleiben beziehungsweise dass sie weiter absinken, und dass nicht nur – Anleger aufgepasst – in nominaler, sondern auch in realer, das heißt inflationsbereinigter Rechnung: Der Realzins entspricht dem Nominalzins abzüglich der Geldentwertungsrate.

In den letzten zehn Jahren haben die Zentralbanken nicht nur dafür gesorgt, dass die nominalen Zinsen auf extrem niedrige Niveaus gefallen sind. Sie haben sich auch daran gemacht, die Realzinsen in vielen Marktsegmenten in den Negativbereich zu drücken. Beispielsweise liegt der durchschnittliche zweijährige Realzins in den Vereinigten Staaten von Amerika seit Mitte 2008 bis heute minus 0,7 Prozent pro Jahr. Die durchschnittliche 10-Jahresrendite im Euroraum liegt nach Abzug der Inflation derzeit bei minus 0,5 Prozent. 

Der negative Realzins hilft den Verschuldeten: Er reduziert ihre Schuldenlast, sie müssen kaufkraftbereinigt weniger zurückzahlen, als sie sich geliehen haben. Die Leidtragenden sind selbstverständlich die Anleger, die ihr Geld – ob wissentlich oder unwissentlich – dem negativen Realzins aussetzen. Das negative Realzinsregime ist kein Zufall: Um die weltweite Schuldenpyramide vor dem Einsturz zu bewahren, sind mittlerweile nicht nur extrem niedrige Nominalzinsen, sondern auch negative Realzinsen notwendig.

In der Zinsfalle

Der Eindruck trügt nicht: Die Zentralbanken haben mit ihren Zinsmanipulationen eine verkehrte Welt geschaffen, um die wahren Folgen ihrer Politik vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Wie erklärt sich dann aber, dass die die großen Zentralbanken wieder zur „Normalität“ zurückzukehren wollen? Wie zu lesen ist, will ja die amerikanische Zentralbank (Fed) den Leitzins weiter anheben, und auch die Europäische Zentralbank (EZB) signalisiert eifrig, sie werde über kurz oder lang auf die geldpolitische Bremse treten.

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es über kosmetische Zinsanhebungen nicht hinausgehen wird. Denn in letzter Konsequenz wird sich wohl niemand finden, der bereit ist, die Verantwortung für die ökonomischen und politischen Konsequenzen zu übernehmen, die ein „Normalisieren“ der Zinsen – ein Anheben der Realzinsen – nach sich ziehen würde. Es sieht eher so aus, dass die Volkswirtschaften im Tiefzinsregime hängenbleiben – und dass die Hoffnung auf eine Rückkehr „auskömmlicher Zinsen“ enttäuscht wird.

Unter diesen Bedingungen ist übrigens das Risiko eines bevorstehenden Systemzusammenbruchs („Crash“) – den vermutlich so mancher Anleger fürchtet – geringer einzustufen als das Risiko einer fortgesetzten Inflationierung des Geldsystems. Zumal die Möglichkeiten, das ungedeckte Geldsystem in Gang zu halten, bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind: Die Realzinsen lassen sich noch weiter absenken – denn die Kapazität der Zentralbanken, Schulden zu monetisieren, ist im wahrsten Sinne des Wortes unbegrenzt.  

Vier Erfolgsprinzipien

Kann man in solch einer Situation in Aktien investieren? In einem Umfeld, in dem die Zentralbankpolitiken die Konjunkturen in die Irre führen, in dem die Preise auf den Finanzmärkten verzerrt und aufgebläht sind? Ja, man kann – und zwar durchaus auch mit gutem Gewissen, wenn man sich die erprobten Prinzipien, die die langfristig wirklich erfolgreichen Aktieninvestoren beherzigen, zu Eigen macht. Vier dieser Prinzipien seien an dieser Stelle genannt:

(1) Investieren Sie nur in Unternehmen, deren Geschäfte Sie verstehen und deren Erfolg Sie mit hinreichender Genauigkeit abschätzen können. Dazu gehören Unternehmen, die einen belastbaren „Track Record“ haben, die also bewiesen haben, dass sie mit dem Auf und Ab der Konjunkturen zurechtkommen; dass sie auch durch schwierige Phasen hindurch erfolgreich gewirtschaftet und auch ihr Kapital stets gut investiert haben. 

(2) Halten Sie dabei Ausschau nach „großartigen Unternehmen“ („Great Businesses“): Das sind solche, die dauerhaft eine hohe Eigenkapitalrendite und einen hohen Gewinn pro Aktie erzielen – weil sie etwas können, was andere nicht beziehungsweise nicht ohne weiteres kopieren können. Die Mühe, großartige Unternehmen aufzuspüren, lohnt sich: Man kann sie kaufen und für lange Zeit halten.

(3) Beherzigen Sie stets das Prinzip „Preis versus Wert“. Preis ist das, was die Aktie an der Börse kostet. Wert ist die Summe aller abgezinsten Zukunftsgewinne („Owners Earnings“) des Unternehmens. Nur dann, wenn der Preis deutlich unter dem Wert liegt, macht das Investieren Sinn. Sie haben dann eine „Sicherheitsmarge“, die Ihre Investitionsrendite erhöht, und Sie reduzieren gleichzeitig auch Ihr Investitionsrisiko, das daraus erwachsen kann, dass Sie den Erfolg des Unternehmens zu positiv eingeschätzt haben.

(4) Treffen Sie Ihre Investitionsentscheidungen mit Langfristorientierung, investieren Sie mit einem Zeithorizont von mindestens fünf Jahren – und lassen Sie sich nicht auf „Markt-Timing“ ein: Die Versuche, „unten“ zu kaufen und „oben“ zu verkaufen, sind für die meisten Anleger nicht von Erfolg gekrönt, denn die kurz- bis mittelfristigen Aktienkursbewegungen an den Börsen lassen sich nicht verlässlich einschätzen, und Kaufen und Verkaufen kosten Geld und Zeit.

Eine Frage der Bewertung

Die Zinsmanipulation der Zentralbanken hat eine dunkle Seite. Sie darf der umsichtige Investor keinesfalls aus dem Blick verlieren – und sich vor allem nicht verleiten lassen, Hals über Kopf in neue, nur schwer einzuschätzende Geschäftsmodelle zu investieren. Unternehmen, deren Geschäftsmodelle er versteht, die sich bereits im Wechselspiel der Konjunkturlagen erfolgreich geschlagen haben, sollte er den Vorzug geben. Bei ihnen kann der Investor sogar auch ein Zugeständnis bei der Bewertung machen.

Denn wenn die Zinsen nicht nur in nominaler, sondern vor allem auch in realer Rechnung niedrig bleiben – und dafür spricht einiges –, wird auch das Bewertungsniveau der Unternehmensaktien (wie zum Beispiel das Kurs-Gewinn-Verhältnis) vermutlich hoch bleiben, beziehungsweise es kann auch noch weiter ansteigen, als es in der Vergangenheit üblich und akzeptabel war. Für die Aktien „großartiger Unternehmen“ kann man also durchaus auch einen hohen Preis zahlen, ohne dadurch zwangsläufig Gefahr zu laufen, zu teuer einzukaufen.  

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