Die meisten Kapitalmarktanleger setzen heutzutage Risiko mit Preisschwankungen, mit „Volatilität“, gleich. Beispielsweise bauen Banken und Versicherungen ihre Risikosteuerung auf den historischen Kursbewegungen von Aktien, Anleihen und Wechselkursen auf. Auch viele private Anleger verwenden die Volatilität, um Anlageentscheidungen zu treffen, bei denen die Rendite in einem akzeptablen Verhältnis zum Risiko stehen soll.
Zur Person
Dr. Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt der Degussa sowie Mitgründer und volkswirtschaftlicher Berater und Mitgründer des P&R REAL VALUE Fonds. Er ist zudem Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth. In seiner auf wiwo.de erscheinenden Kolumne "Intelligent investieren" widmet er sich alle 14 Tage (immer mittwochs) den grundlegenden Irrtümern und Erkenntnissen der Geldanlage.
Der Grund, dass das Risiko anhand des Auf und Ab der Börsenkurse bemessen wird, ist die Akzeptanz einer ganz bestimmten Theorie. Und zwar der „Theorie der effizienten Märkte“. Ihre Wurzeln reichen weit zurück zu den (Vor-)Arbeiten des französischen Mathematikers Louis Bachelier (1870 – 1946). Sie wurden nachfolgend popularisiert durch den amerikanischen Ökonomen Paul A. Samuelson (1915 – 2009) und insbesondere seinen Schüler Eugene F. Fama (*1939).
Kurz gesprochen besagt die Theorie der effizienten Märkte, dass die Börsenkurse jederzeit alle relevanten Informationen enthalten. Schützenhilfe erhält sie von der „Theorie der rationalen Erwartungen“, die der amerikanische Ökonom John F. Muth (1930 – 2005) formuliert hat. Ihr zufolge begehen die Marktakteure keine systematischen Erwartungsfehler: Die Aktienkurse sind systematisch „richtig“, das heißt, sie spiegeln den fundamentalen Wert der gehandelten Aktien korrekt wider.
Doch an diesen Theorien sind ernste Zweifel anzumelden. Beispielsweise lässt sich der Wahrheitsgehalt der Theorie der effizienten Märkte nicht durch Erfahrung abschließend beurteilen. Die Theorie ist zudem unlogisch: Die Börsenkurse können nicht effizient sein in dem Sinne, dass sie stets den richtigen Wert der gehandelten Aktien widerspiegeln. Denn wenn das so wäre, würde es gar keine Käufe und Verkäufe von Aktien geben, weil niemand einen Grund hätte zu kaufen oder zu verkaufen.
Die Aktienmärkte sorgen zwar in der Regel dafür, dass sich kursrelevante Informationen – wie zum Beispiel die Ankündigung von Dividendenzahlungen und Übernahmen – schnell und treffsicher in den Kursen niederschlagen. Aber es gibt auch immer wieder Phasen, in denen Nachrichten fehlgedeutet werden oder in denen Kursbewegungen stattfinden, obwohl es keine Veränderung im Wert der Aktien gibt: Phasen, in denen Investoren ihre Aktien verkaufen, weil andere es auch tun – ohne zu wissen, warum die Verkäufe eigentlich stattfinden.
Wenn aber die Aktienkurse nicht immer den richtigen Wert der Unternehmen widerspiegeln (können), sondern man davon ausgehen muss, dass die Börsenkurse zumindest zeitweise von ihrem Wert abweichen, ist es nicht sinnvoll, Risiko mit Preisschwankungen – also mit der Volatilität – gleichzusetzen.
Ein Anleger, der das tut, trifft vielmehr falsche Entscheidungen! Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Nehmen wir an, Ihre Analyse zeigt, dass eine Aktie 100 Euro wert ist. Im Markt wird sie aber nur zu 50 Euro gehandelt.