Radrennen Sportliche Zeitreise durch die Toscana

Seite 3/3

Ein gesellschaftlicher Trend wird zur baren Münze

Nach dem Start stellen sich den Teilnehmern ganz andere Fragen. Wer nach den ersten zwei Hügeln noch keinen Plattfuß hat, ist gut dabei – auch die Mäntel sind frei von neumodischen Schmankerln wie Pannenschutz. Die spitzen Steine verlangen volle Aufmerksamkeit, die die Fahrer nur haben, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, mit der natürlich stufenlosen Rahmenschaltung den richtigen Gang einzulegen.

Schon nach den ersten 15 Kilometern ist das Feld zerrissen, Dutzende von Plattfüßen werden am Rand geflickt, ein Stück Asphalt wirkt wohltuend wie ein Himmelbett. Die erste Versorgungsstation: Rotwein in Pappbechern zu Schinkensandwiches und eingelegten Oliven statt Iso-Getränke und Energy-Gels wird gereicht. Die Urlaubsromantik während der Strapaze ist der sportlichen Leistung abträglich. Weiter geht es mit schwerem Kopf und vollem Magen über die Hügelketten, während die Nachmittagssonne beginnt, lange Schatten zu werfen. Es wird nochmals schwerer, die fußballgroßen Schlaglöcher zu erkennen.

Die Eroica – ein Mensch und Material forderndes Event in einer Happeninggesellschaft, die einen gesellschaftlichen Trend in bare Münze verwandelt? Nicht für Gründer Giancarlo Brocci. Er wollte mit dem ersten Rennen darauf aufmerksam machen, dass in Norditalien immer mehr der alten Schotterstraßen modernem Asphalt weichen mussten. Inzwischen sind die Routen so beliebt, dass nicht nur Schilder und Reiseführer darauf hinweisen, sogar die Profis entdecken diese Art der Wegführung wieder für sich: Zum zehnten Jubiläum der Eroica wurde erstmals das Montepaschi Strade Bianche, ein Ganztagesrennen von Gaiola nach Siena, durchgeführt, ein Profirennen unter dem Dach des Radsportverbandes UCI.

Die Gedanken an zäh strampelnde Profis sind fern, während die Sonne langsam zwischen Zypressen verschwindet. Nah sind sie bei den Hosen, denn die aus Wolle sind gar keine schlechte Sache bei rapide abnehmenden Temperaturen. Verstaubt, abgekämpft und voller Eindrücke italienischer Romantik nähert sich der schönste Moment, als sich das Teilnehmerfeld völlig aufgelöst hat und jeder Fahrer irgendwann allein mit sich, dem Fahrrad und der Landschaft ist. Unter einem kratzend und scharrend die Reifen auf dem Schotter, über einem das Blau des Himmels, am Horizont die Geschlechtertürme von Siena. Wer gut zehn Stunden und 135 Kilometer nach dem Start erschöpft am Ausgangspunkt in Gaiole wieder eintrifft, und in die Zieleinfahrt einbiegt, dem brennt sich auch unter dem lauten Applaus der Dorfbevölkerung ein: Heldengeburten sind eine zähe Angelegenheit.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%