Zugleich schmälern die niedrigen Zinsen die Sparbereitschaft der Bürger. Statt Geld auf die hohe Kante zu legen, stürmen sie die Einkaufszentren. Konsumenten und Investoren konkurrieren dadurch um knappe Ressourcen wie Arbeitskräfte, Vorprodukte und Rohstoffe. Das verzögert die Investitionsprojekte und führt dazu, dass die Kosten aus dem Ruder laufen. Die Unternehmen sind gezwungen, die Investitionsprojekte abzublasen und Arbeitsplätze zu streichen. Auf den Boom folgt der Bust. Die Niedrigzinsen sind dieser Theorie zufolge nicht das Resultat eines Überangebots an Ersparnissen, sondern die Folge einer expansiven Geldpolitik und der dadurch ausgelösten Kreditschwemme.
Mayer und Gehringer zeigen anhand der Zinsentwicklung in den USA, Deutschland, Großbritannien und Japan in den vergangenen 25 Jahren, dass die Zinserklärung der Österreichischen Schule nicht nur die Logik, sondern auch die Empirie auf ihrer Seite hat. So finden die Autoren mit ihren ökonometrischen Berechnungen keine Belege dafür, dass die langfristigen Kapitalmarktzinsen die Zinssetzung der Zentralbanken beeinflussen. Lediglich für Japan lässt sich dies nicht eindeutig widerlegen. Die Autoren führen das darauf zurück, dass Japan in den Achtzigerjahren einen Boom-Bust-Zyklus erlebt habe, in dessen Gefolge die Geldpolitik quasi gelähmt sei.
Hingegen zeigen Mayer und Gehringer, dass es einen eindeutigen und signifikanten Einfluss der Leitzinsen auf die langfristigen Kapitalmarktzinsen gibt. Besonders ausgeprägt ist der Zusammenhang in den USA. Dort führte im Untersuchungszeitraum eine Änderung der kurzfristigen Geldbeschaffungskosten um einen Prozentpunkt im Schnitt zu einer Änderung der langfristigen Zinsen um 0,56 Prozentpunkte. In Deutschland, Großbritannien und Japan ist der Einfluss nicht ganz so groß. Dort trieb im Untersuchungszeitraum ein Anstieg der Geldbeschaffungskosten um einen Prozentpunkt die Langfristzinsen im Schnitt um rund 0,2 Prozentpunkt nach oben.
Zudem finden Mayer und Gehringer keine Belege dafür, dass die Alterung der Bevölkerung - wie von Summers und Weizsäcker behauptet - eine Sparflut ausgelöst und so die Zinsen nach unten gedrückt habe. Im Gegenteil. In den USA und Japan hat die Alterung der Bevölkerung die langfristigen Zinsen nach oben getrieben. Das heißt, die Menschen weisen eine mit zunehmendem Alter steigende Zeitpräferenz auf. Da sich ihr Leben dem Ende zuneigt, konsumieren sie lieber heute als morgen. Sie sparen also weniger, was den Zins steigen lässt.
Insgesamt kommen Mayer und Gehringer zu dem Urteil, dass die neoklassische Erklärung für die Niedrigzinsen „weder durch die institutionelle Realität des Kreditmarkts noch durch die Daten gedeckt ist“. Mit anderen Worten: Nicht die Sparflut, sondern die Zentralbanker mit ihrer Zinsdrückerei haben die langfristigen Zinsen am Kapitalmarkt auf Talfahrt geschickt. Für die Sparer bleiben die niedrigen Renditen ein Ärgernis. Doch haben sie nun zumindest Klarheit, an wen sie ihre Protestnoten richten sollten: An die Zentralbanker in Frankfurt, Washington, London und Tokio.