Wie viele Nutzer hat Snapchat? Das seit Kurzem börsennotierte Internet-Start-up müsste es wissen. Es schweigt aber lieber. Nur ausgewählte Investoren sollen bisher Statistiken zu Gesicht bekommen haben. Und die, so ein gefeuerter Exmitarbeiter, seien falsch berechnet. Der Mann klagt derzeit in Los Angeles gegen seine Kündigung. Snapchat widerspricht den Anschuldigungen. Überprüfen lassen sich die Zahlen von Snapchat selbst bei Einblick in die Gerichtsakten nicht: Die sind an den entscheidenden Stellen geschwärzt.
Die Geheimniskrämerei von Snapchat stärkt das Misstrauen gegen soziale Medien. Facebook musste frei erfundene und doppelte Konten einräumen. Bis zu 15 Prozent aller Twitter-Konten sind laut US-Forschern nicht menschlich, sondern künstlich über kleine Computerprogramme („Bots“) gesteuert. Kürzlich wurde in Großbritannien ein Netzwerk mit 350.000 Scheinkonten ausgehoben. Für die Werbung, über die sich soziale Medien finanzieren, zählen aber nur Menschen. Je größer die Lücke zwischen der offiziellen und der tatsächlichen Zahl der Nutzer ist, desto stärker überschätzen Anleger den Unternehmenswert.
Mit Statistiken wird überall getrickst. Staaten rechnen ihr Wirtschaftswachstum hoch, Unternehmen ihren Gewinn. Betrug wie bei Volkswagens Dieselabgaswerten ist nicht nötig. Es reicht, mit Zahlen so zu rechnen, dass das gewünschte Ergebnis rauskommt. Schon Mark Twain sagte: „Es gibt Lügen, verdammte Lügen und Statistiken.“
Schummeln in der Statistik: Wo getrickst wurde
Am 19. Januar sagte der saudische Ölminister schrumpfende Ölbestände voraus. Prompt zog der Ölpreis an. Tatsächlich sind die Lager in diesem Jahr gewachsen. Als die Opec Anfang März auch noch höhere US-Ölexporte meldete, rutschte der Preis unter 50 Dollar. Mit ExxonMobil wären Anleger seit 19. Januar 4,5 Prozent im Minus.
US-Präsident Donald Trump rechnet das Handelsbilanzdefizit von offiziell 500 auf 948 Milliarden Dollar hoch. Waren, die die USA nur passieren, schlägt er den Importen zu. Solche Tricks sollen Handelsschranken rechtfertigen. Maschinenbauer Krones macht 14 Prozent des Umsatzes in den USA. Trumps Politik drückte den Kurs.
Wirtschaftswachstum geschönt
Vor allem Statistiken aus Schwellenländern sind unzuverlässig. Umso wachsamer sollten Anleger sein, wenn Banken und Börsengurus diese Regionen anpreisen.
Beispiel Indien: 2015 stellte der Subkontinent die Kalkulation des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um, unter anderem änderte das Land Basisjahr und Berechnungsmethode. Die Wirtschaft sollte demnach plötzlich um 7,5 Prozent gewachsen sein. Schon das US-Außenministerium glaubte nicht daran. In einer Analyse vom Juli 2016 heißt es: „Die verschlechterte Stimmung unter Investoren ist Indiz dafür, dass das Wirtschaftswachstum von 7,5 Prozent übertrieben sein könnte.“ Analysten des Datendienstleisters Reuters brachten letztlich Gewissheit: Sie berechneten ein BIP-Wachstum von nur 5,5 Prozent. Anleger, die auf Indiens kreative Rechnerei setzten, schauten in die Röhre. 2015 machte der indische Aktienindex Sensex ein Plus von 0,8 Prozent. Der Industrieländer-Index MSCI Welt dagegen legte um 8,3 Prozent zu.
Auch China frisiert Zahlen. Im vergangenen Jahr wurde der Chef des nationalen Statistikamts wegen Unregelmäßigkeiten ausgetauscht. Ob es hilft, ist eine offene Frage. Besonders auffällig jedenfalls sind Chinas Tricksereien bei Stahl. So verspricht Peking regelmäßig, Überkapazitäten bei Stahlwerken abzubauen. Tatsächlich produzieren die Chinesen so viel Stahl wie nie.
Es ist daher logisch, dass Profis staatlichen Statistiken misstrauen. „Besuche bei den Unternehmen geben einen besseren Eindruck vom Zustand der chinesischen Wirtschaft als die offiziellen volkswirtschaftlichen Daten“, sagt Christina Chung, Portfoliomanagerin bei der Fondsgesellschaft Danske Invest. Jason Pidcock, Fondsmanager beim britischen Vermögensverwalter Jupiter, ist selbst bei Unternehmenszahlen skeptisch. Er meide Aktien von Chinas Festlandbörsen wegen des Staatseinflusses.
Anleger können von Chinas Wachstum profitieren – auch ohne chinesische Aktien. Unternehmen aus Südkorea oder Singapur machen ebenfalls gute Geschäfte in China. So legte der Indexfonds db x-trackers MSCI Singapore binnen eines guten halben Jahres elf Prozent zu – doppelt so viel wie die Börse Shanghai.