Stelter strategisch

Brexit wäre für Anleger mehr Chance als Risiko

Daniel Stelter Quelle: Presse
Daniel Stelter Unternehmensberater, Gründer Beyond the Obvious, Kolumnist Zur Kolumnen-Übersicht: Stelter strategisch

Der EU-Austritt Großbritanniens scheint möglich. Aber allen Warnungen zum Trotz: Ein Brexit bietet für Investoren mehr Chancen als Risiken. So sie langfristig denken und den Mut haben zu handeln.

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Was Partnerländer über einen EU-Ausstieg denken
US-Präsident Barack Obama in London Quelle: AP
Die chinesische Flagge vor einem Hochhaus Quelle: dpa
Ein paar Rial-Scheine Quelle: dpa
Der russische Präsident Wladimir Putin Quelle: REUTERS
Das Logo des japanischen Autobauers Nissan Quelle: REUTERS

Befragt man Investoren, was sie als die größten Risiken für die Finanzmärkte ansehen, kommt an erster Stelle der „Brexit“ – also ein Austritt Großbritanniens aus der EU – gefolgt von einer Zinserhöhung in den USA und einem Crash in China. Dies folgt einer zeitlichen Logik: die Abstimmung in Großbritannien ist am 23. Juni, die Zinsen dürften, wenn überhaupt, in den USA erst später erhöht werden. China hat den Crash durch einen weiteren Schuss neuer Schulden von mehr als einer Billion Dollar alleine im ersten Quartal dieses Jahres aufgeschoben und damit die Fallhöhe erhöht. Der Crash droht also erst nächstes Jahr.

Die bekanntesten Brexit-Gegner und -Befürworter
 Christine Lagarde Quelle: dpa
David Cameron Quelle: REUTERS
George Osborne Quelle: REUTERS
 Jean-Claude Juncker Quelle: REUTERS
Michael Gove Quelle: REUTERS
Donald Trump Quelle: AP
Barack Obama Quelle: AP

Deshalb können wir uns auf eine wahre Flut an Artikeln zur Abstimmung in Großbritannien einstellen, mit allen möglichen Empfehlungen, aus der Situation Profit zu schlagen. Ich denke, je nach Ausgang der Abstimmung, kann es auch eine Chance für gute Investitionen sein.

Zunächst ist die Frage, wie das Ergebnis zu den Erwartungen der Märkte passt. Gehen wir die Szenarien kurz durch:

  • Gehen die Märkte von einem Verbleib Großbritanniens in der EU aus, und die Abstimmung entspricht dieser Erwartung, dürfte sich an den Märkten nicht mehr viel tun. Die Börse in London und das Pfund könnten eventuell leicht hinzugewinnen, weil die richtig positionierten ihre Gewinne sichern. Wer an dieses Szenario glaubt, sollte also gar nicht in England spekulieren. Es lohnt nicht. Vermutlich dürften die Börsen Kontinentaleuropas und auch der Euro positiv reagieren, weil damit ein weiteres Risiko für EU und Euro vorerst gebannt ist – was nicht bedeutet, dass EU und Euro damit über den Berg sind. Im Gegenteil.

  • Gehen die Märkte von einem Ausscheiden Großbritanniens aus (was sie bis jetzt nicht tun) dürfte es selbst beim Eintreten dieses Falls noch zu  einer deutlicheren Reaktion kommen. Die Börsen in London und Kontinentaleuropa kämen unter Druck. Das Pfund könnte ebenfalls deutlich reagieren, wobei die Richtung dabei völlig offen ist. Auch hier lohnt es sich nicht, im großen Stile zu spekulieren.

Spannender sind naturgemäß die Szenarien, in denen die Abstimmung nicht dem von den Märkten erwarteten Ergebnis entspricht. Die Konstellation, dass die Märkte einen Brexit erwarten, und er nicht eintritt, können wir vernachlässigen. In diesem Fall wäre zwar mit deutlichen Kursgewinnen bei Börsen und Pfund zu rechnen – er entspricht aber nicht der tatsächlich vorherrschenden Markterwartung.

Richtig spannend ist hingegen der andere Fall: die Märkte erwarten weiterhin eine Ablehnung des Brexit, und es kommt zu einem Votum dafür. Bei dieser Konstellation sind deutliche Reaktionen zu erwarten, von denen man profitieren kann. In gewisser Hinsicht erinnert mich die Situation an die Freigabe des Schweizer Franken im Januar 2015. Diese für die Märkte überraschende Entscheidung hat zu heftigen Turbulenzen geführt, die für kühl rechnende Investoren eine gute Gelegenheit boten, mit begrenztem Risiko zu spekulieren. Schweizer Blue Chips wie Novartis und Givaudan stürzten an dem Tag deutlich, nur um in wenigen Wochen die Verluste wieder völlig wegzumachen.

Was die Briten an der EU stört
Mittelstand könnte beim Brexit-Referendum am 23. Juni den Ausschlag geben Quelle: dpa, Montage
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Ähnlich dürfte es auch in diesem Szenario sein. Dazu sollte man vom allgemeinen Gerede der Politiker und Marktbeobachter Abstand nehmen und sachlich die Frage stellen: was bedeutet ein Brexit wirklich für Großbritannien und die EU? Nun, zunächst kann es zu der befürchteten Rezession in England kommen, die auch auf den Rest Europas ausstrahlt. Dabei müssen wir allerdings im Hinterkopf haben, dass es angesichts der Überschuldung in der westlichen Welt und in China nur eine Frage der Zeit ist, bis wir eine erneute schwere Rezession erleben, mit entsprechenden Konsequenzen für die Finanzmärkte, die Geldpolitik (Stichwort: Helikopter) und die politische Stabilität.

Geldpolitik der EZB ist träge

Diese Rezession wird dann jedoch die EU und vor allem die Eurozone deutlich stärker erschüttern als Großbritannien. Die Eurozone hat sich im Unterschied zu England noch nicht von der Krise des Jahres 2009 erholt und hat bis jetzt keine Antwort auf die Krise gefunden. Die Geldpolitik der EZB – so sehr wir sie in Deutschland auch kritisieren – reagiert viel träger als jene Großbritanniens und der USA auf eine erneute Krise. Das spiegelt überdeutlich den zerrissenen Zustand einer Währungsunion wider, die in einem starren Korsett Volkswirtschaften aneinander kettet, die weniger gemeinsam haben als eine hypothetische Währungsunion von allen Ländern der Welt, die mit dem Anfangsbuchstaben „M“ beginnen, wie JP Morgan schon 2012 vorrechnete.

Die politischen Spannungen dürften dann in der EU noch weiter zunehmen und könnten von einem Brexit zusätzlich befeuert werden. Zeigen doch Umfragen schon heute, dass die EU-Skepsis auch in anderen Ländern hoch ist und immer weiter zunimmt. Damit nähern wir uns weiter dem Szenario einer erneuten schweren Eurokrise mit der Möglichkeit eines chaotischen Zerfalls, ausgelöst durch den Austritt eines Landes. Wie regelmäßig dargelegt, hätte ein solcher Zerfall erhebliche Konsequenzen, und als langfristig denkender Investor muss man sich darauf einstellen.

Ein Weg ist, außerhalb des Euroraumes zu investieren. Neben den Schwellenländern, der Schweiz und den USA bietet sich dann auch die englische Börse an. Es ist wenig realistisch, dass die EU ein aus der Union ausgetretenes Großbritannien schlechter behandeln wird als die Schweiz. Zu groß wird das Interesse sein, den wechselseitigen Handel zu befördern – England hat ein erhebliches Handelsdefizit – und zugleich die Tür für eine etwaige Rückkehr offen zu halten.

von Katharina Slodczyk

Die Londoner Börse beheimatet wie die Schweizer Börse viele international agierende Qualitätsunternehmen wie Diageo, Glaxo und British American Tobacco, die man als Langfrist-Investor durchaus anschauen kann. Rohstoffwerte, Banken und Versicherungen sollte man wie auch in den anderen Regionen erst mal außen vor lassen. Kommt es nun zu einem überraschenden Sieg der Brexit-Befürworter mit einem entsprechenden Einbruch an der Börse in London, böte dies eine gute Gelegenheit zum Einstieg. Fundamental dürfte es nämlich keinen Grund geben, die Unternehmen schlechter zu bewerten. Auch das Pfund könnte in einem solchem Szenario nachgeben, wobei offen ist, ob der Euro oder das Pfund mehr unter dem Ausgang der Wahl leiden. Schon jetzt eine Position im Pfund aufzubauen, mag deshalb keine schlechte Idee sein.

Was mich zum Fazit führt: das Risiko in Pfund und englischen Aktien ist langfristig geringer als kurzfristig. Das Risiko im Euro ist mittel- bis langfristig hoch und wächst mit jedem Tag an. Deshalb sieht meine Strategie so aus: eine Position in Pfund aufbauen, im Falle eines Einbruchs des Pfunds nach der Abstimmung weitere Pfund hinzukaufen und bei englischen Qualitätsaktien zukaufen, wenn die Börse nach unten überreagiert. Und dann in aller Ruhe abwarten. Und Tee trinken, ganz wie die Briten.

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