Der Kronzeuge ist nicht einer dieser jungen Wilden, die jeder Mode hinterherrennen.
Friedrich von Metzler ist Bankier aus einer Familie, die sich seit dem Jahr 1674 mit ihrem Fach beschäftigt. Sie hat Kriege, Depressionen und Höhenflüge überstanden. Klar ist, wenn ein Spross dieser Familie eine kritische Beobachtung wiederholt, dann macht er das mit Bedacht: „Eine schärfere Regulierung“, sagt der Bankier oft, „bringt oft nur Scheinsicherheit und mag Auswüchse begrenzen. Eine Überregulierung ist aber eher gefährlich und lenkt von den wirklichen Risiken ab.“
Der Satz ist Salz in die Wunden der Anleger, die seit der Finanzkrise tief verunsichert sind. Handeln nicht die Kontrolleure von Zentralbank, Bundesbank und Finanzaufsicht zu ihrem Besten? Scheinsicherheit? Gefährliche Überregulierung? Welche Risiken meint dieser Kronzeuge, der doch schon qua Geburt ein Finanzmarktversteher sein sollte? Die WirtschaftsWoche hat sich auf die Suche begeben. Sechs Regeln sind es, die sich Finanzmarktkontrolleure ausgedacht haben, um Anleger zu schützen, mit denen sie aber tatsächlich das Gegenteil erreichen.
Das Ende der Lebensversicherung
Mit 74 Millionen Verträgen ist die Lebensversicherung eine der beliebtesten Anlagen. Dumm nur, dass derzeit Millionen Sparer zusehen, wie die Rendite dieser Policen wegen des Niedrigzinses schmilzt: dieses Jahr voraussichtlich auf unter drei Prozent. Ein Grund dafür ist, dass die Lebensversicherer das Geld der Sparer nur zu durchschnittlich 4,3 Prozent in Aktien anlegen, der Löwenanteil liegt in Zinspapieren. Der niedrige Aktienanteil ist nicht Ergebnis übertriebener Vorsicht — sondern vom Gesetzgeber so verlangt. Weil die Lebensversicherer für ihre Policen das Versprechen abgeben, dass sich die um die Kosten geminderten Beiträge der Sparer jedes Jahr mit einem garantierten Zins vermehren, müssen sie dieses Geld besonders sicher anlegen. Derzeit liegt der Garantiezins für Neukunden bei 1,25 Prozent, 2017 soll er auf 0,9 Prozent sinken. Auf den ersten Blick ist das wenig, aber die Lebensversicherer haben noch Policen im Bestand mit einem Garantiezins von bis zu vier Prozent.
Damit die Versicherer auch diese Garantien erfüllen können, greift das Regulierungspaket „Solvency II“, das die Konzerne zwingt, Aktienanlagen mit Eigenkapital zu unterlegen. Daran fehlt es jedoch vielen Versicherern, wofür wiederum eine Vorschrift sorgt: Die sogenannte Mindestzuführungsverordnung schreibt den Konzernen vor, wie stark sie ihre Kunden an Überschüssen beteiligen müssen. Das Geld, das sie verteilen, fehlt ihnen, um Eigenkapital zu bilden. „Versicherer, die über wenig Eigenmittel verfügen, geraten durch Solvency II und die Vorschriften zur Überschussbeteiligung in eine Zwickmühle“, sagt Hermann Weinmann, BWL-Professor an der Hochschule Ludwigshafen.
Auch kleinere Lebensversicherer, die sich von Solvency II befreien können, werden reguliert. Eine Verordnung regelt bis ins Kleinste, wie das Vermögen anzulegen ist. So dürfen Versicherer beispielsweise insgesamt nicht mehr als 35 Prozent in nachrangige Darlehen, Genussrechte, Aktien und andere Unternehmensbeteiligungen investieren. Wenn sie das Geld der Sparer bedroht sehen, können die Aufseher die Quote sogar auf nur zehn Prozent beschränken.
Die Folge der Regulierung sind Produkte ohne oder mit abgespeckten Garantien. Sicherer sind die nicht.
Chancenlose Immobilienfonds
Nach der Lehman-Pleite im Jahr 2008 wollten viele Anleger auch aus Immobilienfonds auf einen Schlag ihr Geld abziehen.
Die Fonds waren jedoch nicht flüssig genug, viele wurden danach zwangsweise abgewickelt. Dabei gaben ihnen die Finanzaufseher starre Termine für den Verkauf aller Immobilien vor. So sollte der Degi Europa, ein damals 1,3 Milliarden Euro schwerer Anlageklassiker mit 90.000 Anlegern, nach dem Willen der Aufsicht innerhalb von drei Jahren alle Immobilien verkauft haben.
Mit den Verkäufen geriet der Fonds in den Sog der Griechenland- und Euro-Krise hinein. Als die Auflösung noch größerer Portfolios wie dem SEB ImmoInvest mit 135 Immobilien drohte, hatte die Aufsicht zwar erkannt, dass die drei Jahre zu knapp bemessen waren: Sie gewährte fünf. Doch auch das war ein sportliches Pensum für die Hausverkäufer, die sich auf eine langfristige Anlage eingestellt hatten. E
xperten sind überzeugt, dass Anleger schonender davongekommen wären, wenn die Aufsicht die Fonds nicht unter Zeitdruck gesetzt hätte. Im Schnitt mussten die Fonds Immobilien 15 Prozent unter dem Wert verkaufen, mit dem sie in den Büchern der Fonds standen. Noch deutlich schlimmer traf es Fonds in der ersten, nur dreijährigen Abwicklungsrunde, die oft mehr als die Hälfte der Anlegergelder verbrannten.
Neue hohe Hürden für den Immobilienkauf
Seit diesem Frühjahr haben Immobilienkäufer Probleme, Kredit zu bekommen. Die Summe der neu vergebenen privaten Immobilienkredite fiel zwischen April und Juli um gut 13 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 80 Prozent der Immobilienfirmen berichten laut Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen über Probleme ihrer Kunden durch die strengere Kreditvergabe.
Die Suche nach den Schuldigen führt über Brüssel nach Berlin. Es geht um die EU-Immobilien-Kreditrichtlinie, die jetzt in deutsches Recht umgesetzt worden ist. Sie ist gut gemeint, denn sie soll sicherstellen, dass Immobilienkäufer sich nur dauerhaft tragbare Kredite aufhalsen. Warum sie trotzdem nicht gut ist, schildert Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank: Die neuen Bedingungen haben eine „überzogen restriktive Wirkung“. Der deutsche Gesetzgeber sei „übers Ziel hinausgeschossen“.
Anders als früher dürfen Banken sich jetzt nicht mehr nach dem Wert der Immobilie, die als Sicherheit dient, richten, sondern müssen allein auf die Zahlungsfähigkeit der Schuldner achten. Für ihre Prognosen setzen sie das frei verfügbare Vermögen und absehbare Einkommen während der Tilgungsdauer an. Können Rentner einen Kredit nicht mehr in ihrer statistischen Lebensdauer tilgen, lehnt die Bank die Vergabe ab – selbst wenn es nur um Renovierungen geht und Erben später einspringen könnten. Bei Jüngeren achten Banken nun etwa auf mögliche Schwangerschaften. Auch ein befristeter Arbeitsvertrag kann ein Hindernis sein.
Berater vermeiden Aktienempfehlungen
Die in Deutschland ohnehin geringe Anzahl an Aktionären stagniert, obwohl Unternehmensanteile renditeträchtig sind.
Der Grund: Seit November 2007 brauchen Finanzberater eine spezielle Erlaubnis, um Empfehlungen zu Aktien, Anleihen und Zertifikaten zu geben. Hat ein Neukunde bereits Einzelaktien im Depot, darf der Berater ohne Erlaubnis keine konkreten Tipps nennen. „Das Erlaubnisverfahren, um trotzdem beraten zu können, zieht sich im günstigsten Fall über einen Zeitraum von sechs bis neun Monaten hin“, sagt Philipp Mertens, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht aus Düsseldorf. Dafür seien einmalige Kosten zwischen 15.000 und 25.000 Euro fällig, jährlich kämen mindestens 10.000 Euro für den dann zusätzlich notwendigen Wirtschaftsprüfer hinzu.
Das ist den meisten Beratern zu teuer. Wollen sie sich nicht nur auf die Beratung zu Fonds beschränken – hier greift eine Ausnahmeregelung –, müssen sie sich einem Haftungsdach anschließen. Der bürokratische Aufwand bei der Beratung zu einzelnen Wertpapieren bleibt auch dann hoch. Seit 2010 sind Beratungsprotokolle Pflicht. Eine Studie des Deutschen Aktieninstituts (DAI) hat die Folgen dieser Regeln analysiert. Der Befund: 65 Prozent der Banken haben die Beratung zu Einzelaktien eingeschränkt, 22 Prozent gleich ganz eingestellt. „Hauptsächlich kleinere Banken und Sparkassen bieten keine Aktienberatung mehr an, weil der Beratungsprozess regulierungsbedingt inzwischen zu hohe Kosten verursacht“, sagt Christine Bortenlänger, Chefin des DAI. So wird eine ganze Anlageklasse diffamiert.
Anreiz für unrentable Anleihen
Wer sich deswegen nach Anleihen umschaut, kann auch stolpern. Anleihen sind von einer Änderung des Wertpapierprospektrechts im Jahr 2012 unangenehm betroffen. Seither müssen Unternehmen innerhalb der EU keinen Prospekt mehr für eine neue Anleihe erstellen, wenn die Stückelung des Papiers wenigstens 100.000 Euro beträgt. Eine Mindestanlagesumme also, die selbst für vermögende Privatanleger zu hoch ist, wenn sie keine Klumpenrisiken eingehen wollen. Die negativen Konsequenzen beschreibt eine Untersuchung der Börse Stuttgart. Demnach begeben immer mehr Unternehmen Stückelungen von 100.000 Euro oder mehr, um die lästige Prospektpflicht zu umgehen.
2014 waren nur noch rund 20 Prozent von 770 Unternehmensanleihen in der Euro-Zone kleiner gestückelt. Zum Vergleich: 2010 kamen noch knapp 90 Prozent auf eine kleinere Stückelung. Doch nicht nur die Auswahl, und damit die Möglichkeit zu streuen, ist inzwischen enorm eingeschränkt, auch auf der Zinsseite verlieren Anleger: So bringt eine im Jahr 2026 fällige, als sicher geltende Anleihe von Philip Morris 0,5 Prozent Rendite pro Jahr – bei 100.000er-Stückelung. Ein vergleichbares Papier von Daimler mit derselben Laufzeit und mit einer 1000er-Stückelung wirft dagegen nur 0,3 Prozent ab. Dahinter steckt unter anderem das klassische Problem von steigender Nachfrage, die auf deutlich weniger investierbares Anleihevolumen trifft. Das drückt den Anlegerertrag.
Berater trägt Produktrisiko
Im Durchschnitt 6,2 Prozent jährlich hätten Anleger verdient, die einem weltweit anlegenden Aktienfonds von Juli 1996 bis Juli 2016 treu geblieben wären. Aber wer bekommt von seinem Berater bescheinigt, dass er ein risikobewusster und kein sicherheitsorientierter Anleger ist und damit überhaupt für Aktienfonds geeignet ist? Die Einstufung von Anleger und Produkt muss der Berater ernst nehmen. Denn bei schweren Fehlern drohen ihm bis zu zwei Jahre Berufsverbot. Doch wie der Kapitalmarkt, so verändert sich auch die Risikoeinteilung der Produkte. Sie basiert auf den Kursschwankungen der Fonds und kann sich monatlich verändern.
Nachdem im Januar die Kurse an den Börsen gefallen waren, rutschte etwa der weltweite Aktienfonds UniGlobal im Februar von der Risikoklasse fünf in die riskanteste Risikoklasse sechs ab. Berater müssen manchen Kunden über diese Änderungen informieren, wollen sie nicht für spätere Verluste haftbar gemacht werden. Der verunsicherte Anleger gerät dadurch in Gefahr, nach einem Kursrutsch seine Anlage zu Tiefstkursen zu verkaufen oder sich durch dauerndes Umschichten hohe Gebühren einzuhandeln.
Die sechs Beispiele zeigen: Regeln zum Schutz der Anleger benachteiligen sie oft. Immerhin könnte Bankier Friedrich von Metzler dem auch etwas Gutes abgewinnen. Die aufwendige Anlegerschutz-Bürokratie dürfte zu einem Comeback der metzlerischen Paradedisziplin führen: der Vermögensverwaltung.
Der Vermögensverwalter braucht nur einmal die Unterschrift des Kunden, dann kann er kaufen und verkaufen, fast wie er will. Die Metzlers haben eben Übung darin, über die Jahrhunderte hinweg auf der Gewinnerseite zu stehen.