Die Europäische Zentralbank (EZB) will vorerst an ihrer ultralockeren Geldpolitik mit Negativzins und massiven Anleihekäufen festhalten. Begründung: Inflation und Wachstum sind noch nicht nachhaltig angesprungen. Zumindest hinsichtlich dieser Beobachtung muss man der EZB Recht geben, auch wenn in den Medien zuletzt zu lesen war „Europa boomt“. Ob das die Zinspolitik der EZB rechtfertigt, ist aber noch mal eine andere Frage. Denn wer die seit Jahren zwischen 0,5 und 1,5 Prozent dahindümpelnden Wachstumsraten der großen Volkswirtschaften als Boom bezeichnet, dem sind offensichtlich die Maßstäbe verrutscht. Weder im langfristigen, also über Jahrzehnte laufenden, noch im internationalen Vergleich kann dieses Wachstum anders bezeichnet werden als mit dem Begriff „anämisch“.
Zur Kolumne
Jahrhundertelang haben sich Finanzgeschäfte kaum verändert. Heute scheinen fast täglich neue Innovationen und Trends die Märkte umzuwälzen. Experten der CFA Society Germany geben hier alle zwei Wochen Einblick in den Wandel der Finanzwelt.
In Deutschland kommt hinzu, dass die Zahl der Beschäftigten ebenso schnell wächst wie die Wirtschaft insgesamt. Das Bruttosozialprodukt pro Beschäftigtem stagniert also, Produktivitätswachstum findet nicht statt. Es stellt sich die Frage, ob diese Beobachtungen zusammenhängen und die Hypothese an dieser Stelle lautet: Ja.
Der gemeinsame Treiber von schwachem Wachstum und stagnierender Produktivität heißt Geldpolitik.
Unternehmenspleiten bleiben aus
Was zunächst paradox klingt, wird nachvollziehbar, wenn wir uns ansehen, wie sich parallel zur immer weiteren Öffnung der monetären Schleusen und der damit erzwungenen Verflachung der Zinsstrukturkurve entlang der Nulllinie die Unternehmenspleiten entwickelt haben. Sie sind seit Beginn der Krise kontinuierlich gefallen. Ihr langjähriges Mittel beträgt eigentlich ca. 1,5 bis 2 Prozent. Im Jahr 2006, dem letzten vor Beginn der Krise, lag die Quote in Deutschland bei 1,2 Prozent. Das macht Sinn, weil in einem Boomjahr die Pleiten geringer sein sollten, als im langjährigen Durchschnitt. Was dann passierte, ist jedoch auf den ersten Blick vollkommen kontraintuitiv: Trotz der epochalen Wirtschafts- und Finanzkrise fiel die Zahl der Pleiten in den 10 Jahren 2006-2016 kontinuierlich auf zuletzt nur noch 0,6 Prozent. Für die meisten anderen Euroländer sieht das ganz ähnlich aus. Was ist da passiert?
Das Wörterbuch der EZB: Die Schlüsselwörter der Notenbanker - und was sie bedeuten
Die Konjunktur verbessert sich.
Bezogen auf die Inflation, heißt dies, die EZB lässt sich von kurzfristigen Sprüngen durch höhere Ölpreise nicht beeindrucken. Erst wenn die Inflation, mehrere Monate lang bei zwei Prozent liegt, ist eine Zinserhöhung denkbar.
Die EZB ist mit ihrem geldpolitischen Kurs zufrieden. Keine Zinsänderungen.
Die EZB hält die Konjunkturlage für instabil. Die Zinsen bleiben niedrig.
Die EZB will die Finanzmärkte beruhigen und bereitet sich auf Interventionen vor, sollten sich Konjunktur und/oder Inflation anders als gewünscht entwickeln.
Die EZB hält ihren aktuellen Kurs für angemessen und plant in nächster Zeit keine Änderungen.
Diesen Begriff verwendet die EZB mit Blick auf Inflationsfaktoren, etwa Löhne und Kapazitätsauslastung. Erst wenn beide steigen, ist mit höheren Leitzinsen zu rechnen.
Die Geldmenge M3 (Bargeld, Sicht-, Termin- und Spareinlagen, Geldmarktfonds, Bankschuldverschreibungen) wächst zu schnell. Eine geldpolitische Straffung wird opportun.
Hier kommt meist ein warnender Unterton ins Spiel. Die EZB sieht Risiken für die Preisstabilität und ist geneigt, die Zinsen bald zu ändern.
Die EZB signalisiert, dass es aus ihrer Sicht noch zu früh ist, die Zinsen zu ändern.
Ein Signalwort. Auch an die eigene Adresse: Die EZB ist handlungsbereit. Beim nächsten Treffen ist mit einer Zinsänderung zu rechnen.
Steigerung von wachsam. Die EZB befindet sich in erhöhter Alarmbereitschaft. Es gibt eine starke Bereitschaft, die Zinsen zu ändern.
Die Geldpolitik hat durch Nullzins die Anpassungskrise auf Unternehmensebene verhindert. Sie hat damit erreicht, was sie erreichen wollte: Die Verhinderung von mehr Arbeitslosigkeit. Durch die Subvention des Nullzinses und auch des schwachen Euro werden all die Unternehmen am Leben erhalten, die – hart gesagt – eigentlich Pleite gehen sollten, weil sie ihre Kapitalkosten nicht verdienen.
Diese Verhinderung der Anpassungskrise mit den Mitteln der Geldpolitik hat jedoch auch volkswirtschaftliche Kosten, denn die Unternehmen, die seit 2006 sonst in Konkurs gegangen wären, sind zumeist ineffizient und unproduktiv. Sie binden damit volkswirtschaftliche Ressourcen, die dann an anderer Stelle, wo sie produktiver eingesetzt werden könnten, nicht mehr zur Verfügung stehen. Das zwingende Ergebnis ist eine stagnierende Produktivität. Und genau diese sehen wir derzeit.
Zahl der „Zombieunternehmen“ steigt
Es stellt sich die Frage nach der Größenordnung des Problems und das Bild ist erschreckend, angesichts der akkumulierten Risiken und des volkswirtschaftlichen Wohlstandsverlustes. Bedenkt man, dass in einer Krise eigentlich überdurchschnittlich viele Unternehmen aus dem Markt ausscheiden, so dürfen wir annehmen, dass sich die Zahl der Pleiten ohne die lockere Geldpolitik eher am oberen Rand des 1,5 bis 2 Prozent Korridors bewegt hätte. 2016 sind also wahrscheinlich 1,4 Prozent aller Unternehmen nicht ausgefallen, obwohl sie ohne Subvention den Test der Märkte nicht bestanden hätten.
Das bedeutet: Jedes Jahr, in dem dieser Mechanismus wirkt, wächst die Zahl dieser „Zombieunternehmen“ weiter an, akkumuliert sich und bewegt sich nach 10 Jahren Krise und Zinssubvention jetzt wohl auf die 10 Prozent-Marke aller Unternehmen zu. Für Deutschland wären das mehr als 300.000 Unternehmen aller Größenklassen, für den Euroraum dürfte die Zahl um ein Vielfaches darüber liegen.