Bilanzexperte Peter Leibfried im Interview Scheinwerte in den Bilanzen

Bilanzexperte Peter Leibfried über Zeitbomben in den Zahlenwerken der Unternehmen und was es bringt, Bilanzierungsregeln für Banken über Nacht auszusetzen.

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Peter Leibfried

WirtschaftsWoche: Herr Leibfried, Unternehmen und Finanzinvestoren haben seit dem Jahr 2003 für gut 14 000 Milliarden Dollar Firmen aufgekauft und dabei noch mehr Geld ausgegeben als in den Boom-Jahren 1995 bis 2000. Damals platzte die Internet-Blase, die Börsen verloren dramatisch, viele Unternehmen rutschten nach hohen Abschreibungen tief in die roten Zahlen. Droht dies auch jetzt wieder?

Peter Leibfried: Ich fürchte ja. Rund ein Drittel der heute ausgewiesenen Firmenwerte...

......also die bei Übernahmen gezahlte Prämie auf die übernommenen Vermögenswerte des gekauften Unternehmens...

...stammt aus den Jahren 2005 bis 2007, als die Vorstände zu Höchstpreisen einkauften. Seither sind die Börsen bis zur Hälfte eingebrochen, abgeschrieben wurde aber praktisch nichts. Insofern schieben wir wieder einmal einen täglich größer werdenden Berg von Problemen vor uns her.

Seit gut vier Jahren müssen Unternehmen den bei Übernahmen gezahlten Aufschlag nicht mehr regelmäßig abschreiben. Deshalb haben sich Firmenwerte in Milliardenhöhe in den Bilanzen aufgetürmt. Sind das nicht häufig Scheinwerte, ähnlich dem, was wir in den Bankbilanzen schon gesehen haben?

Aus Sicht der Aktionäre waren das damals keinesfalls Scheinwerte, schließlich haben die Unternehmen irgendwann einmal echtes Geld dafür bezahlt. Seither haben sich die Aussichten der Unternehmen jedoch radikal verändert. Heute muss man in der Tat vielfach von Scheinwerten sprechen, die ihre betriebswirtschaftliche Berechtigung längst verloren haben. Viele Firmenwerte können sich derzeit nur noch deshalb in den Bilanzen halten, weil sie mit anderen Werten des Unternehmens in einen Topf geworfen werden. Gift ist immer eine Frage der Dosis – und so lange neben den erworbenen Firmenwerten noch ausreichend selbst erwirtschaftetes Vermögen vorhanden ist, merkt niemand, wie schlecht es um den dazugekauften Firmenwert eigentlich bestellt ist.

Hat die alte Regelung, Firmenwerte regelmäßig über lange Jahre abzuschreiben, Aktionären nicht mehr Sicherheit über die künftige Gewinnentwicklung der Unternehmen gegeben?

Natürlich. Die seit 2005 geltende neue Regelung führt letztlich dazu, dass die Bilanzierung dafür verantwortlich wird, den Unternehmenswert zu ermitteln. Das ist aber weder ihre Aufgabe noch ist sie dazu in der Lage. Insgesamt hat die neue Regelung in der Tat bei Erstellern, Prüfern und Analysten zu mehr Unsicherheit geführt, als vorher. Sie ist kontraproduktiv – auch für Aktionäre, die kaum abschätzen können, wie hoch Abschreibungen an-fallen werden. Sicher ist nur, dass über längere Zeit fallende Aktienkurse einige Unternehmen, die hohe Firmenwerte in der Bilanz haben, in die roten Zahlen drücken werden.

Die Bilanzregeln bieten den Finanzchefs erhebliche Spielräume, um Abschreibungen zu vermeiden. Können auch in einer Rezession die Bilanzwerte aufrechterhalten werden, sodass Anleger über die schlechte Geschäftsentwicklung getäuscht werden?

Vorübergehend leider schon. Vielfach wird man versuchen, den Schein so lange zu wahren, bis die Rezession vorüber ist, und die Werte wieder anziehen. Entscheidend ist also, wie lange die Krise dauert. Je länger sie anhält, umso mehr Firmenwerte müssen abgeschrieben werden. Auch ohne konkreten Anlass kann es so Quartal für Quartal zu immer neuen Horrormeldungen kommen. Wir haben diesen Effekt schon bei den Abschreibungen der Banken gesehen. 

Welche Bilanzpositionen außer den Firmenwerten wackeln angesichts der trostlosen wirtschaftlichen Lage noch?

Grundsätzlich trifft die Rezession alle Bilanzpositionen. Jede Position steht für zukünftige Zahlungsströme. In der Regel sorgen vor allem langfristige oder von vielen Annahmen abhängige Bilanzpositionen für Spannung.

Welche sind das?

Vermögen aus erhofften Steuergutschriften, die sogenannten latenten Steuern, außerdem selbst erstellte immaterielle Werte wie etwa Patente. Auch Sachanlagen, Ausleihungen, Restrukturierungsverpflichtungen und Pensionsrückstellungen können plötzlich auftretende, erhebliche Belastungen bringen. Auslöser ist jedoch immer das operative Geschäft.

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